Kieferorthopädie in der Praxis

Die Bezeichnung „Vogelgesicht" wird für Patienten mit der Diagnose „skelettale Klasse II mit Schuld im Unterkiefer" verwendet. Diese haben nicht nur eine Distalbißverzahnung, ihr Unterkiefer ist auch klein und liegt im Gesicht zurück. Wegen des konvexen Gesichtsprofils erscheint die Nase prominent. Bei gleichzeitig vorliegendem Zahnengstand ist eine rein kieferorthopädische Behandlung hier immer ein Kompromiss.

Als Fallbeispiel möchte ich eine 12jährige Patientin vorstellen. Ihr wichtigstes Anliegen war die Verbesserung ihres Aussehens. Wegen der stark protrudierten oberen Frontzähne und einer große Frontzahnstufe hatte sie Probleme mit dem Lippenschluss. Der Unterkiefer war bei fehlender Kinnprominenz klein und zurückliegend.

Abb.1
Normalerweise lässt sich eine Klasse-II/1-Verzahnung, insbesondere bei einem horizontalen Wachstumsmuster des Gesichtes, mit funktionskieferorthopädischen Geräten gut behandeln. Meine Patientin hatte aber zusätzlich zur Klasse-II-Verzahnung einen Raummangel im Unterkiefer. Der Zahn 33 stand buccal verlagert und sein Platz fehlte vollständig.
Abb. 4

Zur Behandlung des Distalbisses hatte das Mädchen bereits erfolglos eine abnehmbare Zahnspange getragen. Daher war der Mutter schon bewusst, dass ihre Tochter wegen der Schwere der Zahnfehlstellung eine aufwändige kieferorthopädische Behandlung benötigte. Nach genauem Studium der diagnostischen Unterlagen hätte ich allerdings zu einer kombinierten kieferorthopädisch-chirurgischen Behandlung nach Wachstumsabschluss raten müssen. So einen Vorschlag hätte die Mutter eines 12 jährigen Mädchens verständlicherweise nur schwer akzeptieren können. Auf der anderen Seite wollte ich in diesem Fall auch nicht verantworten, dass diese Fehlstellung so viele Jahre unbehandelt bleibt.

 

Abb. 6
Eine weitere Behandlungsoption wäre die Extraktion von vier Praemolaren gewesen. Da diese Maßnahme zwangsläufig zu einer Verschlechterung der Gesichtsästhetik führt, und häufig auch mit einer Distalokklusion endet, haben wir uns schließlich entschieden, nur im Oberkiefer zu extrahieren: Um den Overjet zu verkleinern wurde nach der Entfernung der Zähne 14 und 24 die obere Front retrudiert und die untere Front prokliniert. Das Öffnen der Lücke für den linken unteren Eckzahn konnte mit den superelastischen Nickel-Titan-Drähten problemlos gelingen. Die Einstellung der Verzahnung in der Sagittalen im Molarenbereich in eine Klasse-II und im Eckzahnbereich in eine Klasse-I erfolgte mit Elastics.
Abb. 10

Glücklicherweise konnte sich während der Behandlung der Unterkiefer nach vorne und unten entwickeln. Als die Brackets nach zwei Jahren und vier Monaten entfernt wurden, war bei genauer Analyse der Endbefunde der nasolabiale Winkel vergrößert, das Gesichtsprofil konvex, und die unteren Frontzähne waren zu stark protrudiert worden und mussten mit einem Retainer stabilisiert werden. All das hatten wir aber schon zu Behandlungsbeginn besprochen. Gerade deshalb war die Patientin mit ihrem schließlich erreichten Aussehen und ihrer Zahnstellung sehr zufrieden, und das bestätigt, dass bei der Therapie nicht immer das Behandlungsoptimum die erste Wahl sein muss.

Primaria Dr. Doris Haberler

Aus Platzgründen können wir hier nicht alle Bilder darstellen. Die komplette Bildserie finden Sie in der Printausgabe der ZMT. 

Abb. 11