Kieferorthopädie in der Praxis

Als wir vor mehr als 20 Jahren die ersten kieferorthopädischen Fortbildungskurse im ZAFI besuchten, waren die Behandlungsziele für die zugewiesenen Patienten die Angle-Klasse I, ein korrekter Überbiß, harmonische Zahnbögen und das Fehlen von Engständen und Lücken.

Viele weitere Jahre Fortbildung waren nötig, um zu lernen, dass diese Kriterien in vieler Hinsicht nicht ausreichend sind. Will man ideale Ziele anstreben, ist die Kieferorthopädie allerdings häufig nur Teil eines Gesamtplans, und die Zusammenarbeit mit anderen Spezialgebieten der Zahnheilkunde ist nötig.

Abb. 1
Ein lehrreicher Beispielfall war eine Patientin aus meinen frühen Praxisjahren. Sie hatte den typischen Deckbiss mit steil stehenden oberen Einsern. Ihre Hauptanliegen waren ihre Verspannung der Kaumuskulatur und ein nächtlicher Bruxismus, der zu starken Abrasionen der oberen Frontzähne geführt hatte. Als Behandlungsmaßnahmen sah ich die Vergrößerung des funktionellen Freiraumes durch Änderung der Achsenneigung der Frontzähne mit einer Multibracketapparatur vor. Gegen das nächtliche Knirschen sollte die Patientin eine Schiene tragen. Mit dieser Therapie konnte ich die Patientin auch zufrieden und beschwerdefrei entlassen.
Abb. 2

Einige Jahre später, bei einem Recall-Termin, betrachtete ich mein damaliges Behandlungsergebnis bereits kritischer und war über mich entsetzt. Ich hatte wichtige Aspekte der dentalen Ästhetik einfach nicht gesehen und daher unbehandelt gelassen: Die oberen Einser hatten mit dem Abrieb der Schneidekanten an Länge verloren und waren um dieses Ausmaß nach inzisal extrudiert. Damit ging der korrekte Verlauf der Gingivagirlande, eine wichtige Komponente für ein gefälliges Lächeln, verloren (Abb. 1).

 

Abb. 3

Es gehört aber zu den Aufgaben der Kieferorthopädie, übereruptierte Zähne auch in der frontalen Ebene korrekt zu positionieren. Deshalb habe ich den nächsten Patienten (Abb. 2), der sich durch sein nächtliches Knirschen die Kanten seiner Einser abgerieben hatte und durch eine kieferorthopädische Behandlung eine Lösung seiner Probleme erhoffte, gleich vor Behandlungsbeginn umfassender beraten: „Mithilfe einer Multibracketapparatur bekommen die steil stehenden Einser die richtige Neigung. Zusätzlich müssen sie aber so weit intrudiert werden, bis ihr Gingivalrand über das Gingivaniveau der seitlichen Schneidezähne angehoben ist. Erst dann entsteht inzisal ausreichend Platz, und der Zahnarzt kann die fehlenden Kanten prothetisch aufbauen" (Abb. 3).

Nach Absprachen mit dem Zahnarzt konnte dem Patienten ein Zeit- und Kostenplan vorgelegt werden, und die Behandlung beginnen. Die Einser wurden durch Stufenbiegungen im Stahldraht ausreichend intrudiert und anschließend durch die prothetische Versorgung rekonstruiert. Am Ende passten die Einser in Form und Größe harmonisch zu den Nachbarzähnen und ein korrekter Gingivaverlauf war wiederhergestellt (Abb. 4). Damit der Patient mit diesem Behandlungsergebnis lange Freude hat, trägt er zur Sicherheit nachts eine Knirscherschiene.

Primaria Dr. Doris Haberler

Abb. 4