Kieferorthopädie in der Praxis

Wenn junge Patienten mit der Diagnose „Progenie" unsere Ordination aufsuchen, stehen wir vor der Aufgabe, über die Besonderheit dieser Zahn- bzw. Kieferfehlstellung aufklären zu müssen. In der Fachwelt gibt es hierzu noch immer zwei gegensätzliche Meinungen. Die einen sagen, man solle zuwarten, bis das Wachstum abgeschlossen ist, und dann eine kombinierte kieferorthopädisch-chirurgische Behandlung durchführen; die anderen raten zu einem möglichst frühen Behandlungsbeginn, wobei sie ausdrücklich darauf hinweisen, dass trotz jahrelanger Therapie der Ausgang unsicher bleiben kann.
Abb.1 Vergrößerung mit Klick
Dementsprechend informierte ich auch meine 12-jährige Patientin mit frontalem Kreuzbiss und progenem skelettalen Muster sowie deren Mutter über die verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten und die unsichere Prognose bei konservativem Vorgehen. Zum besseren Verständnis erzählte ich den beiden von einem meiner Patienten mit ähnlicher Fehlstellung, bei dem ich mit einer fixen Zahnspange ein gutes okklusales Ergebnis erreichen konnte, der sich aber Jahre später einer nochmaligen kombinierten Behandlung unterzog, weil er mit seiner Gesichtsästhetik nicht zufrieden war.
Abb. 5

Im Falle meiner Patientin begründete ich schließlich meine Entscheidung zur konservativen Behandlung mit der Tatsache, dass sie in zentrischer Unterkieferposition mit den zentralen Schneidezähnen einen Kantbiss einnehmen konnte und ihr Unterkiefer von dieser Position in die habituelle Okklusion nach mesial gezwungen wurde.

Nach einer Behandlung dieses Zwangsbisses scheint der Unterkiefer auch im Schlussbiss nicht mehr so prominent, und zusätzlich wird die durch die erzwungene Unterkiefervorverlagerung bedingte wachstumsstimulierende Wirkung unterbunden. Weiters führen bei Klasse-III-Patienten mit tiefem Überbiss bissöffnende Maßnahmen zu einem nach-hinten-Rotieren der Mandibula, was zusätzlich die Kinnprominenz verringert.

Abb. 6

Zur Überstellung des frontalen Kreuzbisses klebte ich vorerst die Brackets nur im Oberkiefer. Um diese an den Frontzähnen an die richtige Stelle positionieren zu können, wurde eine vorübergehende Bisssperre nötig. Die Oberkieferfront wurde so lange protrudiert, bis sie im Schlussbiss nicht mehr störte. Die anschließende Bissverschiebung konnte mit Klasse-III-Elastics durchgeführt werden. Am Ende der kieferorthopädischen Behandlung war die Okklusion zufriedenstellend.

Wie man an den klinischen Fotos erkennen kann, ist auch das progene Erscheinungsbild korrigiert worden. Es bleibt nun zu hoffen, dass dieses Ergebnis bis ins Erwachsenenalter stabil bleibt, denn in meinem nächsten Beitrag möchte ich zeigen, dass eine Behandlung der Progenie auch weniger erfolgreich verlaufen kann.

Prim.a Dr. Doris Haberler

Aus Platzgründen können hier nicht alle Abbildungen dargestellt werden. Sie finden sie in der Printausgabe der Zeitung.

 

Abb. 7