Richtlinie über grenzüberschreitende Patientenrechte

„Die EU möchte im Interesse der Patientinnen und Patienten bestehende Ungleichheiten der nationalen Gesundheitssysteme bekämpfen. Weiteres Argument seitens der EU für ein europaweites Handeln ist die zunehmende Mobilität von Schülern, Studenten, Arbeitnehmern und Rentnern in Europa. Ferner ist gewünscht, dass sich auch im Gesundheitswesen ein grenzüberschreitender Binnenmarkt für Gesundheitsdienstleistungen entwickelt. Allerdings wird anerkannt, dass dies keine normalen Dienstleistungen sind. Gerade die zahnmedizinische Versorgung setzt eine qualitativ hochwertige Ausbildung und Können voraus. Um den Patienten grenzüberschreitende Behandlungen zu ermöglichen, bedarf es deshalb aus Sicht der EU eines Rechtsrahmens, der die Patienten in gewissem Maße komplementär zur Öffnung der Gesundheitsmärkte auf einem hohen Niveau schützt. Ähnliches lässt sich bei den Verbraucherrechten beobachten.

Vor diesem Hintergrund ist die geplante Richtlinie grenzüberschreitender Patientenrechte geradezu ein Musterbeispiel europäischer Gesetzgebung im Gesundheitsbereich", meint Dr. Alfred Büttner, Leiter des Brüsseler Büros der Deutschen Zahnärztekammer in einem Vortrag anlässlich der Europäischen Fachpressekonferenz zur IDS Anfang Dezember. Es soll also ein allgemeiner Rahmen für die Gesundheitsversorgung samt Kosten-erstattung mit Einbeziehung der praktischen Voraussetzungen in der EU geschaffen werden, und zwar nicht nur für Notfälle, sondern für ganz normale ambulante und stationäre Behandlungen, auch zahnmedizinische.

Auf den ersten Blick könnte man annehmen, dass in Zeiten knapper Kassen bereits heute unzählige Patienten regelmäßig den Gang ins europäische Ausland antreten, um sich ihre Zähne behandeln zu lassen. Allerdings sprechen die Zahlen nicht dafür. Aller gestiegenen Mobilität zum Trotz sind grenzüberschreitende Sachverhalte im Gesundheitswesen weiterhin eher die Ausnahme. Schätzungen gehen davon aus, dass nur 1% der Behandlungen in Europa grenzüberschreitend ist. Dies schließt wohlgemerkt Zwangslagen wie Urlaubsunfälle ein! Die Europäische Union ist jedoch im Begriff, die rechtlichen Grundlagen für eine medizinische Behandlung im EU-Ausland im Interesse der Patientinnen und Patienten deutlich zu verbessern. Dabei handelt es sich um die geplante Richtlinie grenz-überschreitender Patientenrechte.

Europa als Akteur der Gesundheitspolitik
Die Europäische Union wird im Allgemeinen nicht als der Impulsgeber der Gesundheitspolitik wahrgenommen. Und dennoch hat sich die Europäische Union in den vergangenen Jahren zu einem wichtigen Akteur der Gesundheitspolitik entwickelt.

Zwar haben formal die EU-Mitgliedstaaten die Hoheit für Organisation und Finanzierung ihrer Gesundheitssysteme. Bei dieser grundlegenden Kompetenzverteilung zwischen den EU-Mitgliedstaaten und der EU wird es auch nach Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages bleiben (vgl. Artikel 168 AEUV - Vertag über die Arbeitsweise der EU). Allerdings darf die EU die entsprechenden gesundheitspolitischen Maßnahmen der Mitgliedstaaten zum Teil flankierend begleiten und die Zusammenarbeit der EU-Mitgliedstaaten im Gesundheitsbereich etwa durch „Best practice"-Vergleiche stimulieren.

Zudem hat die EU eigene spezielle Kompetenzen

• bei der Bekämpfung grenzüberschreitender Gesundheitsgefahren.
• sie ist zuständig für hohe Qualitäts- und Sicherheitsstandards bei Organtransplantationen, menschlichem Gewebe und Blut sowie für hohe Qualitäts- und Sicherheitsstandards bei Arzneimitteln und Medizinprodukten.
• zudem werden medizinische Behandlungen im Grundsatz als Dienstleistungen eingestuft. Damit hat die gesamte EU-Binnenmarktgesetzgebung zum Teil erhebliche Auswirkungen auf die medizinische Leistungserbringung.
• Schließlich hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) durch eine verbraucher- oder besser gesagt „patientenfreundliche" Rechtssprechung dazu beigetragen, dass die Mobilität der Patienten erleichtert wurde.

Gesundheitspolitische Zielsetzungen der EU
Zunächst möchte die EU im Interesse der Patientinnen und Patienten bestehende Ungleichheiten der nationalen Gesundheitssysteme bekämpfen. Weiteres Argument seitens der EU für ein europaweites Handeln ist die zunehmende Mobilität von Schülern, Studenten, Arbeitnehmern und Rentnern in Europa. Ferner ist gewünscht, dass sich auch im Gesundheitswesen ein grenzüberschreitender Binnenmarkt für Gesundheitsdienstleistungen entwickelt. Allerdings wird anerkannt, dass dies keine „normalen" Dienstleistungen sind. Gerade die zahnmedizinische Versorgung setzt eine qualitativ hochwertige Ausbildung und Können voraus.

Um den Patienten grenzüberschreitende Behandlungen zu ermöglichen, bedarf es deshalb aus Sicht der EU eines Rechtsrahmens, der die Patienten in gewissem Maße komplementär zur Öffnung der Gesundheitsmärkte auf einem hohen Niveau schützt. Ähnliches lässt sich bei den Verbraucherrechten beobachten.

Vor diesem Hintergrund ist die geplante Richtlinie grenzüberschreitende Patientenrechte geradezu ein Musterbeispiel europäischer Gesetzgebung im Gesundheitsbereich. Bereits heute können EU-Bürger Zahnarztbehandlungen im EU-Ausland von ihrer Krankenversicherung in dem Umfang ersetzt bekommen, wie dies im Heimatstaat der Fall ist. Grundlage dafür ist eine seit 2003 bestehende Rechtsprechung des EuGH.

Trotz dieser Rechtsprechung bestehen aber nach wie vor Unsicherheiten. Viele Detailfragen blieben unbeantwortet. Während einige EU-Staaten wie Deutschland die Rechtsprechung des EuGH rasch in nationales Recht umgesetzt haben, unterliefen andere Staaten diesen Erstattungsanspruch in der Praxis. Die Gründe liegen auf der Hand. Man will das Abwandern der Patienten und den dadurch ausgelösten finanziellen Kollaps des eigenen Gesundheitssystems verhindern. Auch im Rahmen der Diskussion über die 2006 verabschiedete Dienstleistungsrichtlinie wurde die Frage aufgeworfen, ob der Gesundheitssektor unter den Anwendungsbereich der Dienstleistungsrichtlinie fallen sollte oder nicht. Dies wurde letztlich abgelehnt. Alle diese Umstände veranlassten die zuständige EU-Kommission im Jahr 2008, einen Vorschlag für eine Richtlinie über grenzüberschreitende Patientenrechte vorzulegen.

Ziel des Richtlinienvorschlags
Mit der Richtlinie über grenzüberschreitende Patientenrechte soll unter Wahrung der Kompetenzen der Mitgliedstaaten und auf der Grundlage der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes ein allgemeiner Rahmen für die grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung samt Kostenerstattung in der EU geschaffen werden. Wohlgemerkt, es geht hier nicht nur um plötzlich auftretende Notfälle, sondern es geht um geplante ambulante und stationäre Behandlungen, d.h. auch um zahnmedizinische Behandlungen. Der Richtlinienentwurf beschränkt sich jedoch nicht auf den vom EuGH entwickelten Grundsatz der Kostenerstattung. Vielmehr enthält der Entwurf weiter gehende Vorschläge, die in der Summe darauf abzielen, die praktischen Voraussetzungen für eine grenzüberschreitende Mobilität der Patienten zu schaffen.

Inhalt des Richtlinienvorschlags
• Vorabgenehmigung und Kostenerstattung
Auf der Grundlage der EuGH-Rechtsprechung wird allen Patienten ein Anspruch auf Erstattung der im Ausland entstandenen Behandlungskosten zugebilligt. Der Umfang richtet sich nach der Kostenerstattung im Heimatland. Für stationäre Behandlungen ist jedoch eine Vorabgenehmigung erforderlich.

Die Mitgliedstaaten können unter bestimmten Voraussetzungen die Vorabgenehmigung verweigern. Umstritten ist, wann und in welchem Umfang dies erlaubt ist. Umstritten ist ferner, ob alle medizinischen Behandlungen unter den Anwendungsbereich der Richtlinie fallen. So wird etwa heftig um die Einbeziehung seltener Krankheiten zwischen Europäischem Parlament und Rat gerungen.

Qualitätsstandards
Um allen Patienten ein angemessenes Niveau der Gesundheitsversorgung zu garantieren, sollen die Mitgliedstaaten klare Standards und Leitlinien für die Qualität der Ge-sundheitsdienste auf ihrem Territorium festlegen und diese laufend dem wissenschaftlichen Fortschritt anpassen.

• Aufbau europäischer Referenznetzwerke
Unter Einbindung von Patientengruppen und Berufsvertretern ist der Aufbau von europäischen Referenznetzwerken geplant, bei denen die EU-Mitgliedstaaten eng zusammenarbeiten müssen.

• eHealth
eHealth, d.h. den elektronischen Gesundheitsdiensten, kommt eine Schlüsselrolle bei der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung zu. So sollen europäische Standards die Interoperabilität elektronischer Gesundheitsdienste erleichtern. Umstritten ist, ob und inwieweit der EU-Kommission im Wege des Regelungsverfahrens, d.h. des Komitologieverfahrens, mehr Einfluss eingeräumt werden soll, um die Interoperabilität elektronischer Gesundheitsdienste im Alltag sicherzustellen.

•  Einrichtung nationaler Kontaktstellen
Die Mitgliedstaaten sollen unter Einbindung von Patientenorganisationen, Krankenkassen und Gesundheitsdienstleistern nationale Kontaktstellen einrichten, die als Anlaufpunkte für die Patienten dienen.

• Umfassende Information der Patienten
Über die nationalen Kontaktstellen sollen den Patienten umfassende Informationen über die Möglichkeit einer grenzüberschreitenden Behandlung zur Verfügung gestellt werden. Ferner soll der jeweilige Gesundheitsdienstleister die Patienten über alle relevanten Punkte informieren, damit die Patienten eine Entscheidung über die Behand-lung treffen können.

Aktuelle Situation
Der Richtlinienentwurf hat bereits einen langen und kontroversen Weg hinter sich. Der Vorschlag der Kommission datiert aus dem Jahr 2008. Die eigentliche Entscheidung über die Richtlinie treffen aber das Europäisches Parlament und die im Rat versammelten Mitgliedstaaten als gleichberechtigte Mitgesetzgeber. Während das Europäische Parlament bereits im April 2009 seine erste Lesung abschließen konnte, setzte sich die sehr kontroverse Diskussion im Rat bis zum Juni 2010 fort. Erst dann gelang eine politische Einigung. Derzeit befinden wir uns in der zweiten Lesung im Europäischen Parlament. Ziel der EU-Institutionen ist es, eine einvernehmliche Einigung zwischen Rat und Parlament zu erzielen. Doch schon jetzt zeichnet sich eine Kontroverse zwischen der zurückhaltenden Position des Rates und der „patientenfreundlicheren" Haltung des Europäischen Parlaments ab. Meine Prognose ist, dass allen Differenzen zum Trotz die Beratungen über die Richtlinie Anfang 2011 abgeschlossen werden. Nach einer sich dann anschließenden Umsetzungsfrist von schätzungsweise zwei bis drei Jahren finden die Patientinnen und Patienten deutlich einfachere Rahmenbedingungen für eine Auslandsbehandlung in der Europäischen Union vor. Es bleibt abzuwarten, inwieweit die Patienten dann von diesem Angebot Gebrauch machen werden.

Profitieren werden nach meiner Erwartung die nationalen Gesundheitssysteme, die sich auf einem hohen Qualitätsniveau befinden und so für Patienten attraktiv sind, ebenso wie solche Gesundheitssysteme, die bestimmte Leistungen auf einem attraktiveren Preisniveau anbieten können. In jedem Fall bedeutet die Richtlinie einen wichtigen Schritt in Richtung eines europäischen Gesundheitsbinnenmarktes.

Dr. Alfred Büttner, Leiter des Brüsseler Büros der Deutschen Bundeszahnärztekammer, Vortrag anlässlich der Europäischen Fachpressekonferenz zur IDS am 7. Dezember 2010

Dr. Alfred Büttner