Umweltzahnmedizin - Eine Nachlese des Zahnärztekongresses 2014

Nebelig-nass mit sonnigen Zwischenspielen – und etwas kleiner dimensioniert als sonst beim österreichischen Zahnärztekongress. Den Freitag durfte Dr. Elisabeth Wernhart-Hallas der Umweltzahnmedizin widmen (wie immer als eine von mehreren Parallelveranstaltungen).

Unser Vortragssaal war ziemlich ausgelastet – zu unserer Freude nicht mit gut bekannten Fans, sondern mit Neugierigen. Einerseits sind Kollegen verunsichert, weil sie in vielen Arbeitsjahren die Belastungen, die wir als so real hinstellen, nie beobachtet haben, andererseits weil sie das neue Wissen als Schuldzuweisung empfinden.
In Wahrheit vermitteln alle Vortragenden dasselbe Bild: Nicht unsere Materialien an sich sind böse, sondern manche Menschen vertragen sie nicht. Die Kunst besteht darin, herauszufinden, welche Werkstoffe individuell sinnvoll sind und ob Zahnreparaturmaterial an bestehenden Beschwerden schuld sein könnte.

Vortrag Zahnarzt Lutz Höhne, Trigger – Mund – Anamnese – Werkstoff

Die enorme Werkstoffvielfalt im Mundbereich führt zur Freisetzung verschiedener Bestandteile und zu Reaktionen des Immunsystems darauf. Die Materialien sind rund um die Uhr vorhanden – das System wird dauernd getriggert, ohne Erholungspausen.
Besonders schlecht verarbeitete Werkstoffe geben Schadstoffe ab, z.B. entstehen bei unterbrannter Keramik Randspalten und die Farbzusätze werden frei. Der Körper reagiert darauf mit Entzündung, und zwar generalisiert.
Remaniumdrähte, Brackets, Lote bei manchen Legierungen oder Amalgam setzen Metallionen frei: Nickel, Zinn, Kupfer, Beryllium. Piercings eventuell Kobalt. Auch Hüftimplantate spielen mit (sie enthalten Aluminium) oder die empfängnisverhütende Spirale (Kupfer). Nun kommen Schadstoffe aus der Umwelt dazu, etwa Aluminium aus Deodorants und Tonern oder Impfungen, Zinn aus Mundspülungen, Cadmium aus belastetem Gemüse, Palladium aus Autokatalysatoren… Zwischen den Metallen kommt es zu Spannungen, der natürliche Zellabbau verändert sich, das Immunsystem geht in Richtung Entzündung, in entzündeten Knochenbereichen findet man „Bouillon“. Phosphatzement härtet schlecht aus.
Leider ist auch eine metallfreie Versorgung nicht die Lösung: Methylmethacrylate oder kleine Comonomere sind bekannte Allergene (14%), auch Knochenzemente. Wenn zusätzlich Desinfektionsmittel die Membrandichte herabsetzen, kommt es auch zu Infektanfälligkeit. Und wieder gibt es kumulierende Stoffe aus der Umwelt, z.B. Methacrylate aus Haarsprays oder Kolophonium aus Pflastern, Schadstoffe aus magensaftresistenten Kapseln.
Bei Monomeren ist der Abbau noch weitgehend unbekannt, ein Teil wird sogar als Kohlendioxid abgeatmet, östrogenartige Wirkungen sind jedoch beobachtet worden. Es kommt zu gesteigertem Energieverbrauch mit nachfolgender Müdigkeit und Depressionen durch gestörte Tryptophanverwertung.
Wichtig ist nicht nur die Materialzusammensetzung, sondern auch die Oberflächengestaltung. Das erklärt auch z.B. die unterschiedliche Verträglichkeit von Implantaten.

Dr. Volker von Baehr, Immunsystem – was wichtig ist

Volker von Baehr zitiert das New England Journal of Medicine, wonach diverse Autoimmunerkrankungen wie multiple Sklerose, Morbus Crohn oder Diabetes Typ 1 in den letzten Jahren um das Dreifache angestiegen sind. Allergien haben sich verdoppelt, Hauptbetroffen sind Menschen zwischen 30 und 50 Jahren. Überreaktionen gibt es auf klassische Allergene, Auto-Antigene oder kommensale Erreger (Clostridien, E.coli).
Epithel- und Immunzellen merken sich eine falsche Oberfläche – es kommt zur Proliferation von T-Zellen, die Interferon abgeben – lokal können Zähne absterben, allgemein reagiert man mit „flu like symptoms“.
Ob Haptene eine Entzündung auslösen, hängt davon ab, ob der Körper aktivierte CD4-Zellen gegen  diese hat und ob es gleichzeitig regulierende T-Zellen gibt, die diese Entzündungsreaktion bremsen. Durch die Summe von Schadstoffen und Verwirrung durch in der Natur nicht vorkommende Nahrungsbestandteile kann die gastrointestinale Toleranz verloren gehen – es kommt etwa zu Kuhmilchallergie im fortgeschrittenen Alter. Andererseits darf auch nicht alles toleriert werden, sonst kommt es wie nach Chemotherapien zum Überwuchern von Candida.
Das Immunsystem ist sehr komplex – alle Stressoren greifen dort an: oxidativer und nitrosativer Stress, chronische Entzündungen, selbst bloßes Erschrecken.
Für jeden Faktor des Immunsystems gibt es genetische Dispositionen und triggernde Substanzen. Es kommt zu CRP-Anstieg und Mineralverschiebungen. Als auslösender letzter Tropfen dienen dann Impfungen, Infekte. Zu einer chronischen Entzündung kommen dann andere dazu – und die erste ist nicht selten im Zahnbereich.
Metalle können toxisch sein. Individuelle Enzymdefekte oder -blockaden bedingen zytotoxische Reaktionen mit Funktionsstörungen oder Zellzerstörung. Durch Verdrängung von Zink können Histaminintoleranzen entstehen. Oder sie irritieren das Immunsystem, führen zu unspezifischer Entzündung, Typ-4-Allergie  oder Autoimmunerkrankungen.
Messungen:
• Metalle im Speichel (Morgenspeichel und Kaugummitest, je 3 ml) zeigt Korrosion und Abrasion. Im ersten Speichel findet man Chrom-Kobalt-Molybdän, Gold, Amalgam. Im zweiten mehr Amalgam als Gold. Auch Aluminium aus Zementen kommt vor. Die Mundhöhle ist immunologisch wenig reaktiv. Die Schleimhaut produziert normalerweise Defensin, Mucin … in Anwesenheit von Metallen ändert sich die Durchblutung, es entstehen unspezifische Lymphknotenschwellungen. Der Epikutantest müsste mit zehnfacher Dosierung arbeiten.
• Systemische Sensibilisierung: Lymphozytentransformationstest LTT
Gemessen wird die Vermehrung der Immunzellen nach Inkubation mit Metallsalzen, Kunststoffmonomeren, Wurzelfüllmaterial, Nahrungsmitteln.
Volker von Baehr leitet das Institut für Medizinische Diagnostik (IMD) in Berlin. Er hat verschiedene Dentalpakete im Programm und bietet einen Kurierdienst in Österreich an.

Prof. Dr. Wolfgang Huber, Multisystem-Erkrankungen, Diagnostik und Therapie

Prof. Dr. Huber aus Heidelberg hat lange Jahre mit Dialyse gearbeitet, mittlerweile ist er hauptsächlich als Gutachter tätig, spezialisiert auf Schäden durch Holzschutzmittel. Bei chronischer Belastung steigt vor allem Interleukin 6. Ursachen sind oft Virusinfekte (EBV, Herpes …) Beginn meist acht Wochen nach dem Infekt, besonders beim reaktiven Typ (Lymphschwellung), Protozoen, Toxoplasmose,  Xenobiotika, organische Phosphate, Schwermetalle, physikalisches Trauma, psychischer Stress. Dentalmaterialien und Parodontalerkrankungen sind wichtige Cofaktoren, deren Beseitigung eine Therapie ermöglicht.
Fibromyalgiesyndrom FMS, Chronique fatigue syndrome CFS und multiple chemische Sensibilisierung MCS sind recht häufig (z.B. CFS in Deutschland 0,5–3%) und die Schulmedizin ist relativ hilflos.
Die Patienten haben Lymphadenitis, subfebrile Temperaturen, Kopf- und Halsschmerzen. Serotonin und Cortisol sind erniedrigt, gliazellspezifische Entzündungsfaktoren erhöht.
Symptome wie bei Darmgrippe, kein erholsamer Schlaf, Unwohlsein nach körperlicher Belastung, Konzentrationsstörung.
Verminderte Mitochondrienaktivität liefert weniger Energie, die Perfusion des Frontalhirns sinkt (PET), die Darmpermeabilität steigt. Es kann zu Gewichtszunahme durch Zytokinverschiebung kommen.
Genetische Faktoren spielen mit, aber die Erfolgsquote der Therapien liegt bei etwa 70%.
Untersuchungen: Blutbild, Senkung, CRP, CK, ATP, S 100, NSE, Schilddrüsenhormone, Stresshormone, LTT, IFNg, IL 10, TNFa.
Heilmittel: Aminosäuren (ACC, ALA, L-Carnitin, Tryptophan), Zeolithe, Vitamin D, B-Vitamine, Vitamin C in NaCl-Infusion.
Immunbremsend; Weihrauch, Linolen, Curcumin, Gingko, Ribose, Mineralstoffe, Coenzym Q 10, Omega 3-Fettsäuren.

Dr. Margit Riedl-Hohenberger, Diagnostik in der personalisierten Zahnmedizin: Labor und Applied Kinesiology im Vergleich

Mit Muskeltestverfahren kann man die Verträglichkeit geplanter Zahnmaterialien austesten oder bereits inkorporierte Werkstoffe überprüfen.
Empfohlene Laborverfahren: LTT, Effektorzelltypisierung, Titanstimulationstest, Entzündungs-Genpolymorphismus, Basophilendegranulationstest, DMPS-Test oder Speichelanalyse. In einer Praxisstudie wurden Ergebnisse von AK-Test und Laborverfahren verglichen, Bei bereits inkorporierten Materialien konnte Frau Dr. Riedl eine Übereinstimmung von 78% finden. Bei geplanten Werkstoffen ergab sich eine Treffsicherheit von 87%
Lediglich bei der Makrophagenstimulation durch Titandioxidpartikel ist der prospektive AK-Test unverlässlich und das Laborverfahren (Titanstimulationstest) vorzuziehen.

Dr. Rudof Meierhöfer, Mundschleimhaut und Zungendiagnostik

Dieser Vortrag war besonders gut besucht, und das zu Recht: Durch simples Beachten von Phänomenen wie Aphthen oder Mundecken sind Rückschlüsse auf das Immunsystem und Allgemeinerkrankungen möglich. Und genau hier setzt auch die zielführende ganzheitliche Therapie an. Weitere Hinweise geben uns Farbe, Form, Impressionen, Furchen oder Risse der Zunge. Dr. Meierhöfer präsentierte uns auch die Grundlagen der chinesischen Zungendiagnostik, insbesonders die Topografie (z.B. entspricht die Zungenspitze dem Herzen).
Ein gelungenes Spektrum ganzheitlicher Zahnmedizin, wenn auch für viele verwirrend.
Etliche Kollegen stellen sich nun die Frage, ob sie etwas übersehen haben oder sich vor künftigen Komplikationen fürchten müssen. Angesichts des enormen Umfangs zahnärztlicher Leistungen ist die Zahl an Komplikationen eher gering. Andererseits nehmen Immunstörungen zu und vereinzelt werden Zahnärzte bereits zu Schadenersatz verpflichtet.
Mein Rat: genaue Anamnese auf Unverträglichkeiten und Allergien sowie auf Immunschwäche und  Herderkrankungen. Im Bedarfsfall Biotest und/oder Laborverfahren vorschlagen. Bei geplanten Implantationen und Immunstörungen: Titanstimulationstest im Labor. Lehnt der Patient wegen der Umstände oder Kosten ab, vermerken Sie das in der Datei.
Ein weiteres Ziel für uns ist die Information der Allgemeinärzte, damit sie bei entsprechenden Erkrankungen an die Zahnmedizin denken und schon ein Vorscreening durchführen können – es kann ja sein, dass auch altgediente Kollegen nie mit den Folgen unserer Arbeit konfrontiert wurden, weil man mit CFS nicht (als erstes) zum Zahnarzt geht.
Generell gilt: Gute Anamnese und Dokumentation, aber bitte keine Panik. Und – siehe Vortrag Lutz Höhne: technisch gut gemachte Zahnheilkunde schadet weniger!

MR Dr. EVA-MARIA HÖLLER
Zahnärztin und
Kieferorthopädin in Wien
Schwerpunkt: Komplementärverfahren
Gerichtlich beeidete Sachverständige
mit Zusatzbezeichnungen
Kieferorthopädie und
Komplementärverfahren
ordi.hoeller@aon.at