Fallbericht: Kieferorthopädie in der Praxis

Im kommenden Jahr sollen Kinder mit schweren Zahn- und Kieferfehlstellungen eine Gratiszahnspange erhalten. Mit einem Grad 5 der Bewertungsskala IOTN (Index of Orthodontic Treatment Need) zählen Spaltpatienten zweifelsfrei zu den Begünstigten.

In Europa beträgt die Häufigkeit von Patienten mit Lippen-, Kiefer- und Gaumenspalten 1 zu 450. Darunter befinden sich die unterschiedlichsten Ausprägungen von Mikroformen bis hin zu vollständigen beidseitigen Lippen-, Kiefer- und Gaumenspalten. Den verschiedenen Fehlbildungen gemeinsam ist, dass sie alle eine kieferorthopädische Betreuung benötigen, die häufig bereits unmittelbar nach der Geburt einsetzt und erst mit Ende des Wachstums als abgeschlossen betrachtet werden kann.
Die kieferorthopädische Behandlung soll die spaltbedingt verworfenen Kieferstümpfe in einen normalen Alveolarfortsatzbogen einordnen und pathologischen Entwicklungstendenzen der Kieferstümpfe entgegenwirken. Als weiteres Ziel sollte ein zirkulär regulärer Überbiss erreicht werden, weil erfahrungsgemäß eine okklusale Verankerung der Kieferstümpfe im Gegenkiefer am besten einem Kollaps entgegenwirkt, der nach dem chirurgischen Verschluss der Spalten durch die nicht zu vermeidenden Narbenzüge entsteht. Schließlich finden sich bei Spaltpatienten natürlich auch unterschiedliche, spaltunabhängige, anlagebedingte Dysgnathien und Gebissanomalien, die eine fachgerechte Kieferorthopädie erfordern.
Im Gegensatz zur chirurgischen Rehabilitation von Spaltpatienten, die im Großen und Ganzen nach Operationsschemata und bestimmten Konzepten der chirurgischen Behandlung erfolgt, benötigt jeder einzelne Spaltpatient eine individuelle kieferorthopädische Betreuung.

Fallbeispiel

Als Fallbeispiel möchte ich eine Patientin mit einseitiger Lippen-, Kiefer- und Gaumenspalte aus unserer Ordination vorstellen, die nach dem von Prof. Dr. Karl Hollmann beschriebenen „Wiener Konzept “ behandelt wurde: Lippenrotverschluss möglichst gleich nach der 1. Lebenswoche, Verschluss des weichen Gaumens nach Vollendung des 1. Lebensjahres, Nasenbodenbildung im 4. Lebensjahr, Verschluss des harten Gaumens im 6. Lebensjahr.
Die Ziele der Behandlung waren:
1. Ein unbehindertes Wachstum des Oberkiefers und des Mittelgesichtes.
2. Die frühzeitige Minderung der ästhetischen Beeinträchtigung im Bereich des Mundes, um einerseits den psychischen Druck von den Eltern zu nehmen, wodurch sekundär die psychische Entwicklung des Kindes negativ beeinflusst werden könnte, und um andererseits den Leidensdruck, unter welchem Spaltpatienten häufig stehen, möglichst nicht aufkommen zu lassen.
3. Die rechtzeitige Annäherung der Funktionen wie Sprache, Schluckakt, Atmung und Gehör an die Norm.
Die kieferorthopädische Behandlung startete mit einer Oberkieferabdeckplatte. Diese hatte die Aufgabe, die Mundhöhle gegenüber dem Nasenraum abzuschließen. Sie war im dorsalen Anteil mit einer Coffinfeder versehen. Dadurch war es möglich, die Platte an das Wachstum anzupassen und, wenn nötig, durch eine forcierte Dehnung einem Kollaps der Kieferstümpfe entgegenzuwirken. Die Platte wurde für den Durchbruch der Milchzähne und für die gewünschte Wachstumsrichtung der Alveolarfortsatzstümpfe kontinuierlich ausgeschliffen. Um die Abdichtung zur Nase hin zu erhalten, wurde der Spalt zwischen den Plattenhälften mit Silikonabdruckmasse ausgefüllt.
Während des Zahnwechsels wurden die in Fehlstellungen durchbrechenden bleibenden Zähne mit Platten im Sinn von A. M. Schwarz korrigiert. Da der seitliche Schneidezahn spaltseitig nicht angelegt war, wurde auch der linke entfernt, damit schließlich die Oberkiefermitte mit der Gesichtsmitte übereinstimmte.
Das Ergebnis am Ende sowie auch fünf Jahre später kann als zufriedenstellend bezeichnet werden und man könnte den Eindruck gewinnen, dass solch eine Behandlung mit Platten weiters auch nicht besonders schwierig ist. Tatsächlich stellt die kieferorthopädische Therapie nicht nur Anforderungen an die Auswahl und die Handhabung der gewählten Geräte. Die Situation jedes einzelnen Patienten ist verschieden und benötigt eine sorgfältige Planung und individuelle Durchführung der Therapie. Zudem muss sich der Arzt, wie bei jeder Behandlung von Kindern, auch um das Vertrauen der kleinen Patienten bemühen, will er erreichen, dass Anordnungen und Verhaltensempfehlungen ausreichend befolgt werden und die Mitarbeitsbereitschaft bis zum Behandlungsende erhalten bleibt. Das gelingt am besten, wenn die kleinen Patienten auch kindgerecht glaubwürdig informiert und motiviert werden.
Dennoch bringt die Behandlung von Kindern mit schweren Kiefer- und  Zahnfehlstellungen wenig Anerkennung und wird schlecht bezahlt. Möge das neu erfundene Wort „Gratiszahnspange“ in Zukunft dafür stehen, dass sich das ändert.

MR Dr. DORIS HABERLER
niedergelassene
Kieferorthopädin in Wien
office@dr-haberler.at


Bildserie zum Fallbeispiel:

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