Fallbeispiel: Impotenz, Zähne und Stress

Ein fescher Bursche sitzt auf meinem Behandlungsstuhl. Er ist Radrennfahrer und mitten in der Vorbereitung zu einem seiner wichtigsten Rennen.  Er wurde von seinem Urologen zu mir überwiesen: Diagnose – stressbedingte Impotenz. Der junge Mann ist erst 26 und der Überweisungsgrund für eine normale Zahnarztpraxis eher ungewöhnlich. Doch sein Urologe vermutet einen Zusammenhang mit den Zähnen.

Anamnese

Zahnärztlich hat er keine Beschwerden. Vor fünf Jahren hatte er einen Fahrradsturz mit Frontzahntrauma. Die Zähne 12 und 11 mussten wurzelkanalbehandelt werden. Vor einem Jahr traten Beschwerden in diesem Bereich auf und beide Zähne wurden daraufhin reseziert.
Aufgrund der urologischen Verdachtsdiagnose hatte er sich bei seinem Zahnarzt bereits untersuchen lassen. Das dort angefertigte und zum Termin bei uns mitgebrachte OPG zeigte laut Aussage des Vorbehandlers keine Veränderung zum Vorbild. Weil sein Hauszahnarzt auch klinisch keine Auffälligkeiten finden konnte, riet er zur Vorstellung in der Fachabteilung einer Klinik. Hier wurde ein CT erstellt, das nur leichte Aufhellungen im Bereich der Resektionsstellen zeigte. Dies wurde als normale Vernarbung nach WSR ohne Pathologie eingestuft. Auf ausdrücklichen Wunsch seines Urologen sei er nun nochmals bei mir vorstellig geworden. Die Stressanamnese aufgrund des hohen Leistungsdrucks in der Vorbereitungsphase zu einem karriereentscheidenden Rennen könne er bestätigen, „... das andere stresst mich aber mehr“. 

Das Röntgen zum Fallbericht

Klinische Untersuchung

Alle Zähne außer den wurzelkanalbehandelten Zähnen 12 und 11 sind vital. Eine Perkussionsempfindlichkeit an den Zähnen 12 und 11 liegt nicht vor. Im Bereich der Resektionsnarbe ist eine dezente lymphatische Schwellung ersichtlich, die nicht druckempfindlich ist. Die submandibulären Lymphknoten sind unauffällig. Nur der Lymphreflexpunkt C2 rechts nach Adler und Langer ist verquollen und druckschmerzhaft. In der Untersuchung mittels funktioneller Myodiagnostik kann ich durch axialen Druck auf die Zähne 11 und 12 eine Dysreaktion mehrerer Indikatormuskeln auslösen. Die Frontzähne stehen im Herddiagnoseschema nach Voll und Kramer in einer Wechselbeziehung zum Urogenitalsystem. Auch der gemäß der traditionellen chinesischen Medizin dem Urogenitalsystem zugeordnete Alarmpunkt (KG2) und die neurolymphatischen Punkte der Nebenniere zeigen im Test eine Belastung an. Letztere sind immer dann auffällig, wenn der Stress sich nicht mehr länger nur im Kopf abspielt, sondern bereits körperliche Veränderungen im Hormonsystem aufgetreten sind.
Über weiterführende Untersuchungen sind auch direkte Zusammenhänge zwischen den Funktionskreisen (Zähne, Urogenitalsystem, Nebennierenrinde) zu verifizieren. Als übergeordnetes Störfeld finde ich die Zähne 12, 11.

Die Krux mit Störfeldern

Die Zusammenhänge zwischen Zähnen und Organsystemen, in diesem Fall speziell zwischen Frontzähnen, Nebenniere und Urogenitalsystem, sind lange bekannt. Ausführlich beschrieben wurden diese Zusammenhänge durch Dr. Voll, Dr. Kramer, Dr. Gleditsch und Dr. Vollmer.
Auch der bekannte österreichische Naturheilkundler und Zahnarzt Dr. Christian Kobau bemühte sich zu seinen Lebzeiten, diese Zusammenhänge auch in der modernen Zahnmedizin wieder bekannt zu machen. Aus rein zahnärztlicher Sicht entsteht im vorliegenden Fall ein schwieriges Entscheidungsproblem. Der Patient hat keine lokalen Schmerzen, die klassischen bildgebenden Verfahren zeigen keine eindeutig entzündlichen Befunde – sollte man da nur auf Verdacht zwei überkronte Frontzähne entfernen?
Es muss immer berücksichtigt werden, dass die meisten unserer Erkrankungen multikausale Geschehen sind. Wir können immer nur Faktor um Faktor behandeln, bis der Körper wieder in Kompensation kommt. Im hier vorgestellten Fall kommt noch eine ästhetische Komponente erschwerend hinzu, weil Frontzähne entfernt werden müssten.
Wenn die Zusammenhänge zwischen der Frontzahnregion und dem urogenitalen System bekannt sind und man weiß, dass zahnärztliche Störfelder solche Beschwerden, weit entfernt vom Entzündungsherd, auslösen können, hat man mehr Indikatoren, auf die sich die Entscheidung stützt. Heutige Forschungsergebnisse zeigen deutlich, dass solche chronischen Entzündungsherde für den Körper und das Immunsystem einen anhaltenden Stress bedeuten. Auch ist bekannt, dass unsere gebräuchlichen Diagnosemethoden wie das Röntgen und die klinische Inspektion nicht immer eine klare Pathologie zeigen. Wie sicher kann im Alltag unsere Diagnose aufgrund dieser Untersuchungen sein, wenn z.B. bei konventionellen 2-D-Panoramaaufnahmen und Zahnfilmen Veränderungen der Knochenstruktur erst nach Auflösung von 60–70% der Trabekel überhaupt erkennbar werden? (A. Bumann; Der aktuelle Stand bildgebender Verfahren; Wissenschaft und Forschung BZB; 11: 59–63. 2009)?
Wer also keine weiterführenden Diagnosemethoden, wie die LTT-Untersuchung auf Mercaptan/Thioether, den TOPAS-Test oder bioenergetische Testmethoden heranzieht, hat es bei der Diagnosestellung solcher versteckten Entzündungen nicht leicht. Ich habe mit meinem Patienten die Zusammenhänge ausführlich besprochen – die Entscheidung über eine solch invasive Therapie mit ihren Folgen kann nur der Patient selbst nach umfassender Aufklärung treffen.
Nach Auswertung der vom Patienten mitgebrachten Vollblutanalyse sowie der Untersuchung mittels funktioneller Myodiagnostik/Applied Kinesiology verordnete ich primär folgende Stützungstherapie:

Orthomolekular

Tocopherol – Vitamin E
„Tocopherol“ kommt aus dem Griechischen und bedeutet „ein Kind zeugen oder Nachwuchs erwarten“. Vitamin E, unser Fruchtbarkeitsvitamin, in seiner natürlichen Form z.B. in kaltgepresstem Weizenkeim oder Sonnenblumenkernöl vorkommend, schützt oxidationsempfindliche Stoffe im Körper, zu denen auch unsere Hormone gehören.
Durch Stress, egal ob psychisch, durch Entzündungen oder durch sportliche Höchstleistung, kommt es zu Erhöhung von oxidativem Stress und damit zu einem erhöhten Bedarf an Antioxidanzien. Als weiteren Oxidationsschutz nahm der Patient zusätzlich bereits gepufferte Ascorbinsäure ein, die ihm sein Urologe verschrieben hatte.
Auch das Spurenelement Zink wird bei der Hormonproduktion, sowie bei entzündlichen Geschehen und Stress in größeren Mengen benötigt. Zudem ist es an über 300 enzymatischen Reaktionen im Körper maßgeblich beteiligt. Der Mangel an Zink war dem Patienten bereits bekannt. Trotz Einnahme eines Zinkpräparates über längere Zeit konnte aber nach den Werten der Vollblutmineralanalyse der Zinkspiegel nicht zufriedenstellend aufgefüllt werden. Meine Untersuchung ergab, dass eine andere chemische Verbindung von diesen Patienten individuell besser resorbiert werden konnte.

Homöopatisch und phythotherapeutisch

Vor allem im Bereich der Nebennierenrinde wurde der Patient mit homöopatischen Mitteln wie Phythocortal und Glandula suprarenalis medulla unterstützt. Homöopathie regt den Körper zur Selbstregulation an, ohne invasiv in das Hormonsystem eingreifen zu müssen.
Bachblüten wurden von mir nach Testung zusätzlich zur psychischen Unterstützung eingesetzt.

Neuraltherapie

Zur Absicherung der von mir gestellten Herddiagnose und der Organzusammenhänge wurde dem Radsportler eine Neuraltherapie nach Testung mittels Applied Kinesiology in der regio 11 und 12 injiziert. Beim Kontrolltermin zehn Tage später teilte der Patient freudestrahlend und augenzwinkernd mit, dass er nach unserer neuraltherapeutischen Unterspritzung bei 12, 11 zwei Tage wieder „voll einsatzfähig“ war. Aufgrund der gesamten Symptomverbesserung hatte er sich zur Zahnentfernung entschlossen.
Während der Operation zeigte sich, dass die entzündungsbedingten Umbauprozesse um die Zähne 11 und 12 deutlich größer waren als radiologisch dargestellt. Zudem lag am Zahn 12 eine Längsfraktur vor. Im CT ist dies vermutlich nicht festgestellt worden, da die einzelnen Schnitte selbst im HRCT – dem Verfahren geschuldet – im Abstand von 1–2mm erfolgen, was zur Darstellung solcher Längsfrakturen häufig eine zu große Distanz ist.
Nach der Abheilung war der Patient vom Erfolg begeistert. Ein sehr interessanter Nebeneffekt des operativen Eingriffs, war das Feedback seiner Trainer: Deutliche Steigerung der Konzentration, der inneren Ruhe und der Leistung des Sportlers im Vergleich zu den Monaten davor.
Die Frage nach „Henne und Ei“ ist schwer zu beantworten. Ob durch die massive Stressbelastung des Trainings der chronische Herd an den Zähnen aktiviert wurde oder ob das Herdgeschehen die Belastungsfähigkeit des Patienten in Maximalbelastung herabgesetzt hat, er deshalb schlechter auf Stress reagieren konnte und so auch die urogenitale Region überlastet wurde, ist nicht mehr zu ergründen. Wichtig ist nur, dass wir als Ärzte wieder lernen, unserem Patienten und seiner Geschichte in voller Konzentration zuzuhören und Zusammenhänge und die Komplexität des Menschen zu erkennen.

Dr. EVA Meierhöfer
FA für Oralchirurgie
Klagenfurt
praxis@meierhoefer.at

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