Fallbericht: Kieferorthopädie in der Praxis

Der graphische Ist-Soll-Vergleich nach Hollmann ist eine verlässliche und brauchbare Analysemethode, mit der sich rasch entscheiden lässt, ob eine Behandlung noch alleine mit konservativen Maßnahmen durchgeführt werden kann oder ob dazu ein chirurgisches Vorgehen herangezogen werden sollte.

Wenn erwachsene Patienten mit problematischen gnathischen Strukturen eine kieferorthopädische Praxis aufsuchen, erwarten sie, dass zeitgemäße Techniken zum Einsatz kommen. Von diesen erhoffen sie eine Behandlung, die wenig belastend ist, eine kurze Behandlungszeit und trotzdem eine ausreichende Verbesserung der Gebisssituation sowie der Ästhetik. Um unrealistische Vorstellungen, was die Therapie und das Behandlungsergebnis betreffen, auszuräumen und damit die notwendigen therapeutischen Maßnahmen ergriffen werden, verwenden wir in solchen Fällen den sogenannten Ist-Soll-Vergleich (ISV) nach Hollmann. Das ist ein Diagnose- und Planungsverfahren, das primär unabhängig von therapeutischen Überlegungen ist. Weiters ist der ISV ein grafisch anschauliches Verfahren, sodass es auch für den Patienten verständlich ist. Aufbauend auf den Grundlagen der Fernröntgenanalyse und auf der Profilbeurteilung nach Schwarz werden das Ausmaß und die Art der Abweichungen der Zähne und Kiefer aber auch der Konturlinie des Profils von der Norm aufgezeigt. Mit einer derartigen Analyse lässt sich so rasch entscheiden, ob für das gewählte Behandlungsziel eine konservative Kieferorthopädie ausreicht oder ob dafür ein chirurgisches Vorgehen erforderlich ist.

Fallbeispiel:
Als Fallbeispiel möchte ich einen 33-jährigen Patienten vorstellen: Die intraoralen Fotos zeigen einen ausgeprägten Tiefbiss und Deckbiss. Im Unterkiefer fehlen die zweiten Prämolaren, der anteriore Zahnbogen ist nach distal gekippt und die entsprechenden Lücken bei 35 und 45 sind geschlossen. Weiters besteht eine Regelverzahnung im Molarenbereich, eine Klasse-II-Verzahnung im Eckzahnbereich, eine stark ausgeprägte Spee´sche Kurve und eine bukkale Nonokklusion bei 14. Die Mundästhetik ist wegen der Zahnfehlstellung und wegen des abnormalen Verlaufes der Gingivagirlande beeinträchtigt. Sein Profil zeigt den typischen Verlauf eines Deckbisspatienten: ein kurzes Munddrittel, eine aufgerollte Unterlippe und eine Unterkieferrücklage trotz prominentem Kinn.
Für die Therapie waren dem Patienten zweierlei wichtig:
1. Es sollten mit der Behandlung seine ästhetischen und funktionellen Anforderungen erfüllt werden.
2. Die Belastung durch die Therapie sollte möglichst gering gehalten werden.
Nach dem ISV waren folgende Schritte notwendig, um die Profillinie des Patienten (rot) an das Sollprofil nach A.M. Schwarz anzunähern:
• Im Oberkiefer war es ausreichend, die Neigung der Zahnachsen der oberen Einser (rot) entsprechend der Sollneigung (blau) durch Proklination zu ändern.
• Zur Verbesserung der ausgeprägten labiomentalen Falte und der Rücklage des Kinns (Ist: rote Konturlinie von Unterlippe und Kinn) waren aber größere Verschiebungen der darunterliegenden Hartgewebe erforderlich. So musste für einen von A.M. Schwarz vorgegebenen harmonischen Profilverlauf von Unterlippe und Kinn (Soll: blaue Konturlinie von Unterlippe und Kinn) der anteriore untere Zahnbogen aufgerichtet und zusätzlich mit seiner apikalen Basis und dem Kinn nach vorne verschoben werden.
Möglicherweise gibt es in diesem Fall verschiedene Therapieoptionen. Wir wählten entsprechend dem Behandlungsplan folgendes Vorgehen: die orthodontische Ausformung des oberen Zahnbogens und anschließend für den Unterkiefer die Doppelsegmentosteotomie nach Hollmann. Dabei wurde durch einen subapikalen Knochenschnitt der anteriore Alveolarfortsatz bis distal der Vierer vom Unterkieferkörper abgetrennt und durch einen zweiten Knochenschnitt der Kinnteil abgesetzt. Zwischen diesen beiden mobilisierten lingual gestielten Fragmenten blieb eine Spange bestehen, wodurch die Kontinuität des Unterkiefers gewahrt blieb. Das Kinnfragment wurde in der gewünschten Position an der Unterkieferknochenspange fixiert. Das zahntragende anteriore Segment wurde ausreichend gekippt und korrekt zur oberen Front nach anterior verschoben und mit einer präoperativ bei der Modelloperation hergestellten Lingualschiene positioniert. Um die vierte postoperative Woche erhielt der Patient auch im Unterkiefer Brackets. Nach den chirurgischen Maßnahmen waren schließlich nur mehr Zahnstellungskorrekturen von geringem Ausmaß erforderlich, bis die bei 35 und 45 geöffneten Lücken prothetisch versorgt werden konnten.
Das Ergebnis zehn Jahre später bestätigt den Nutzen einer guten Planung mit dem ISV sowie der Segmentosteotomie, einer bewährten und zuverlässigen Behandlungsmethoden, beides nach Hollmann.

MR Dr. Doris Haberler
niedergelassene
Kieferorthopädin in Wien
office@dr-haberler.at


Bildserie zum Fallbeispiel:

Zum Vergrössern bitte anklicken!