Piercings: Komplikationen und Prophylaxe - Infos von der Expertin

Aufgrund der stark zunehmenden Popularität von Körpermodifikationen kommen Zahnärzte/Zahnärztinnen und Assistentinnen immer häufiger in Kontakt mit PatientInnen mit oralen Piercings. Wir führten deshalb ein Interview mit der Innsbrucker Piercing-Expertin Ass.-Prof. PD Dr. Ines Kapferer-Seebacher, MSc.

Kapferer-Seebacher wurde 1975 in Innsbruck geboren und studierte Zahnmedizin an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Danach war sie im Zahnambulatorium der Vorarlberger Gebietskrankenkasse, beim zahnärztlichen Hilfsprojekt e.V. in Recife/Brasilien, an der Universitätszahnklinik Wien und der Universitätsklinik für Zahnerhaltung und Zahnersatz der Medizinischen Universität Innsbruck tätig. Die  Habilitation (Thema „Dentale und parodontale Komplikationen oraler Piercings“) erfolgte im Juni 2013.

Was sind die häufigsten Piercing-Komplikationen?

KAPFERER-SEEBACHER: Am häufigsten sind die Komplikationen direkt nach dem Setzen des Piercings. Nach dem Piercen der Zunge haben die PatientInnen natürlich Probleme beim Essen und Sprechen, während nach dem Piercen der Lippe häufig Schwellungen und leichte Infektionen, selten auch Sensibilitätsstörungen auftreten. Selten werden lang anhaltende Blutungen und schwerwiegende Infektionen beobachtet. Je besser die häusliche Mundhygiene, desto weniger Komplikationen nach dem Piercen.
Für das zahnmedizinische Personal interessanter sind die langfristigen Schäden durch orale Piercings. Bei den Piercings der Unterlippenmitte – in der Labiomentalfalte – hatten 72% der untersuchten ProbandInnen parodontale Schäden (zumeist Rezessionen bis zu 5mm Tiefe; 4% hatten lokalisierte Parodontitiden). Rezessionen und lokalisierter Knochenabbau kommen durch den Druck des intraoralen Piercingverschlusses auf das Parodont zustande. Daher zeigen auch die stabförmigen Piercings, die direkt auf der Schmelz-Zement-Grenze liegen, häufiger Rezessionen als Piercings, die sehr hoch gestochen sind und nur auf den Zahnkronen Kontakt haben, oder auch Ringe. Bei den seitlichen Piercings der Ober- oder Unterlippe beobachten wir seltener Rezessionen, weil sie nicht so stark gegen das Parodont gedrückt werden. Rezessionen entstehen wahrscheinlich nur dann, wenn der intraorale Piercingverschluss am Margo gingivae reibt oder dagegen gedrückt wird. Zahnfrakturen gibt es nur, wenn PatientInnen versehentlich auf das Lippenpiercing beißen (vor allem bei den stabförmigen Piercings aus Metall). Häufig sieht man auf den Zähnen leichte Attritionen durch das Aufschlagen der Metallteile auf dem Zahn. Bei Zungenpiercings haben ein Drittel der Patienten tiefe linguale Rezessionen in der Unterkieferfront oder an den 6-Jahr-Molaren. Je länger der Stab des Piercings und je länger das Piercing im Mund ist, desto häufiger kommt es zu Rezessionen. 10% der PatientInnen mit Zungenpiercings zeigen durch das unkontrollierte Aufschlagen der Metallkugel auf die Zähne Höckerfrakturen.

Warum findet sich bei Verwendung von Stainless Steel eine höhere mikrobiologische Belastung?

KAPFERER-SEEBACHER: Die gängigen Piercingmaterialien – rostfreier Stahl, Titan, Polytetrafluorethylen (PTFE) und Polypropylen – unterscheiden sich in ihren physikalisch-chemischen Eigenschaften. So ist PTFE hydrophob und rostfreier Stahl eher hydrophil. Dadurch werden die Stahlpiercings im Mund besser durch den Speichel benetzt und kommen schneller und enger in Kontakt mit Bakterien im Speichel als die anderen Materialien. Der hohe Oberflächengehalt an Fluor im PTFE reduziert das bakterielle Wachstum zusätzlich. Die Stahlpiercings unterscheiden sich auch in ihrem Rauigkeitsprofil, weil sie geschliffen und Kunststoffpiercings gepresst werden. Dadurch, dass unsere untersuchten Piercings aber alle billiger Modeschmuck waren, war die Oberflächenpolitur generell nicht ausreichend und die Rauigkeit hoch.

Wie lauten Ihre Empfehlungen hinsichtlich Piercings?

KAPFERER-SEEBACHER: Aufgrund der hohen Komplikationsrate muss von Piercings in der Unterlippenmitte dringend abgeraten werden. Wenn trotz aller Warnungen ein Unterlippenpiercing nicht entfernt wird, sollte ein Ring anstelle eines Stäbchens eingesetzt werden, und der Verschluss darf an der Lippeninnenseite nicht auf den Margo gingivae drücken. Auch Zungenpiercings zeigen hohe Komplikationsraten.
Bei allen Lippen- und Zungenpiercings muss man aufgrund mechanischer und mikrobiologischer Überlegungen PTFE-Piercings empfehlen. Diese Kunststoffstifte können bei seitlichen Lippenpiercings ohne Bedenken mit Metallkugeln verwendet werden, nicht jedoch bei den Zungenpiercings. Regelmäßig  müssen alle Piercings entnommen und gereinigt werden.
Da orale Piercings sowohl mit parodontalpathogenen als auch mit periimplantitis assoziierten Mikroorganismen besiedelt sind, hat eine Transmission dieser Spezies im Mund eine hohe klinische Relevanz. Vor Implantation und auch in der Parodontaltherapie müssen die Piercings  meiner Meinung nach entfernt werden. Eine Transmission pathogener Spezies könnte auch nach Zahnextraktion eine Rolle spielen.
Aus internistischer Sicht sollte die Besiedelung der oralen Piercings mit Helicobacter pylori, Staphylococcus aureus und Streptococcus pneumoniae nicht unerwähnt bleiben. Da die Biofilme der oralen Piercings extrakorporal liegen, dürften sie  – wie die dentalen Biofilme – von einer systemischen Antibiotikagabe kaum beeinflusst werden.

Herzlichen Dank für das Interview!

Dr. PETER WALLNER
Umweltmediziner und
Medizinjournalist
peter.wallner4@gmail.com

 

Ass.-Prof. PD Dr. Ines Kapferer-Seebacher, MSc