Fallbericht - Kieferorthopädie in der Praxis:

Der Begriff „Sunday bite“ kommt ursprünglich aus den USA. Weil eine Person mit prominentem Kinn als ästhetisch angesehen wurde, pflegten die Sänger des Kirchenchores, um besser auszusehen, bei den kirchlichen Sonntagsfeierlichkeiten, die immer von großen Menschenmengen besucht wurden, beim Singen den Unterkiefer nach vorne zu schieben.

Auch in der Kieferorthopädie kennen wir die Bezeichnung „Sonntagsbiss“. Wir verstehen darunter einen Doppelbiss, bei dem für gute Okklusionskontakte eine Vorschubbewegung des Unterkiefers erforderlich ist. Solche Patienten haben ursprünglich eine mandibuläre Rücklage und einen Distalbiss. Gleichgültig, mit welchen Klasse-II-Behandlungsgeräten – Bionator, Aktivator, Doppelplatten, Herbstderivaten oder Gummizügen – diese Dysgnathie behandelt wird, nicht immer kommt es zu einer ausreichenden Wachstumsteigerung des Unterkiefers und bei den Betroffenen bleibt ein „centric-slide“ zurück. Ihr Unterkiefer befindet sich dann, wenn sie essen, lachen oder sprechen, in der Vorposition, in der auch eine Normokklusion besteht, er fällt aber in die distale Lage zurück, wenn sie erschöpft sind oder schlafen. Es ist nicht immer einfach, einen „Sonntagsbiss“ zu diagnostizieren und meist erfordert es Tricks und Ablenkungsmanöver, um den muskulär in Protrusion fixierten Unterkiefer des Patienten in seine zentrische Position zurückführen zu können.
Es ist aber wichtig diesen Fehlbiss zu erkennen, schließlich wird er für zahlreiche Störungen im craniomandibulären System verantwortlich gemacht, wie muskuläre Verspannung, Kopfschmerzen, Kiefergelenkprobleme und Schädigungen an Zahnhartsubstanz und Zahnhalteapparat.
Kommt es zu keinem ausreichenden Unterkieferwachstum kennen wir als Therapiemöglichkeiten in der Kieferorthopädie die Kompromissbehandlung, bei der kompensatorisch die unteren Zähne übermäßig protrudiert und die oberen Zähne distalisiert werden, sowie die chirurgische Unterkiefervorverlagerung.
Als Fallbeispiel möchte ich eine 9,5 jährige Patientin vorstellen. Sie hatte eine halbe Klasse-II/2, eine Rücklage des Unterkiefers, zeigte eine hyperaktive Mentalismuskulatur und eine schlechte Körperhaltung. Es bestand ein Raummangel für die Zähne 13 und 23, die noch nicht durchgebrochen waren. Um Platz für die Eckzähne zu schaffen und die Klasse-II/2 zu behandeln, habe ich zu einer Multibracketbehandlung geraten. Nach 30 Monaten aktiver Therapie waren die Zahnbögen ausgeformt, aber die Patientin hatte einen „Sonntagsbiss“.
Die Verzahnung sah in habitueller Okklusion ganz gut aus, in der Retralen zeigte sie eine Frontzahnstufe von mehreren Millimetern. Zu diesem Zeitpunkt entfernte ich trotzdem die Brackets, da die Patientin die Kontrolltermine wegen Krankheit häufig nicht einhielt und auch die Mundhygiene Probleme machte. „Ihre Tochter hat einen Doppelbiss!“, informierte ich die Mutter und klärte sie darüber auf, dass dieser nach Abschluss des Wachstums möglicherweise nochmals mit einer Zweitbehandlung korrigiert werden muss. Das Behandlungsergebniss retinierte ich mit einer abnehmbaren Vorschubapparatur und riet zu einer logopädischen Therapie.
In der Retentionsphase verbesserte sich glücklicherweise die okklusale Situation. Zuletzt war die Patientin im Alter von 16 Jahren zur Kontrolle in der Ordination. Aus dem schüchternen kränklichen Mädchen war schließlich eine selbstbewußte Jugendliche geworden. Ihr Profil war harmonisch und die Okklusion in stabiler Klasse-I-Verzahnung.

MR Dr. DORIS HABERLER
niedergelassene
Kieferorthopädin in Wien
office@dr-haberler.at

Bilderserie zum Fallbeispiel:

Zum Vergrössern bitte anklicken