Fallbericht: Kieferorthopädie in der Praxis

„Specialized knowledge will do a man no harm if he also has common sense, but if he lacks this, it can only make him more dangerous to his patients.“
Oliver Wendell Holmes aus dem Buch „Handbook of Orthodontics“ von Robert E. Moyers

Manchmal werde ich von jungen Kollegen gefragt, welches kieferorthopädische Lehrbuch ich denn empfehlen könnte, und dann denke ich an die Fachliteratur, die ich in meiner langjährigen kieferorthopädischen Tätigkeit erstanden habe, und die meine Regale füllt. Darunter befinden sich auch zahlreiche Lehrbücher. Zum Teil handelt es sich um Nachschlagewerke, die das gesamte Fachgebiet umfassen, geschrieben für Studenten der Kieferorthopädie und für Praktiker. Andere Bücher beschreiben die Behandlungsphilosophie des jeweiligen Autors, spezielle Behandlungstechniken sowie Indikation, Herstellung und Handhabung kieferorthopädischer Geräte. Schließlich besitze ich auch zahlreiche Lehrbücher und Festschriften, die in regelmäßigen Abständen erschienen sind, mit Beiträgen von verschiedenen Autoren zum neuesten Stand von Wissenschaft und Praxis auf dem Gebiet der Kieferorthopädie. Ich habe sie alle gelesen, manches auszugsweise, vieles davon mehrfach.
Nun, zu meinen persönlichen Lieblingslehrbüchern zählen jene, die sich mit dem „Wesen der Kieferorthopädie“ befassen. Beispielhaft seien als Autoren für Europa der Schweizer Professor Dr. med. Rudolf Hotz und für die Vereinigten Staaten der langjährige Leiter des „Center of Human Growth“ in Michigan, Professor Dr. Robert E. Moyers genannt. Dem Einwand, dass es sich hierbei um Antiquariate handelt und die Genannten schon lange nicht mehr am Leben sind, halte ich entgegen, dass Fragen wie „Welche der vielen Malokklusionen, die man als Zahnarzt täglich sieht, soll behandelt werden?“ „Sofort oder später?“ „Warum und wie?“ unabhängig vom Angebot der sich rasant entwickelnden technischen Möglichkeiten und den stets steigenden Begehrlichkeiten der Gesellschaft behandelt werden sollen. Es gibt aber auch rezente Beiträge. So hatten die Teilnehmer des IVOS 2013 mit dem Generalthema „Orthodontic waves, what`s really new?“ die Gelegenheit, Dr. Ute und Dr. Lorenz Moser, beide weltweit anerkannte Spezialisten ihres Faches, zu hören. In ihrer vielbeachteten Präsentation mit dem Thema: „...and what does really matter?“ setzten sie sich kritisch mit neuen Technologien wie selbstligierende Brackets, super-elastische Bögen, skelettale Verankerung und Corticotomien auseinander. Anhand von Fallbeispielen zeigten sie, dass diese traditionellen Behandlungskonzepten nicht immer überlegen sind, sondern im Gegenteil auch mehr an Aufwand, Belastung und Kosten bedeuten können. Die Autoren unterstrichen damit ihren Standpunkt, dass solide diagnostische Fähigkeiten und etablierte Strategien die wichtigsten Faktoren für eine erfolgreiche kieferorthopädische Behandlung sind.
Aber noch immer hält sich der Mythos hartnäckig, dass es in der Kieferorthopädie zwei Qualitätsstufen gibt: Den hohen Standard, der die neuesten und modernsten Techniken einfordert, und ein niedrigeres Niveau, das einfache Maßnahmen anwendet.

Fallbeispiel:

Dazu möchte ich als Beispiel einen Jungen zeigen, der mit 7,3 Jahren meine Ordination aufsuchte, weil die rechten oberen Schneidezähne im Gegensatz zur linken Seite noch immer nicht gewechselt hatten und im Unterkiefer die seitlichen Schneidezähne lingual der persistierenden Milchzweier durchgebrochen waren. Am deshalb angefertigten Panoramaröntgenbild konnte man einen Mesiodens, der mit seiner Krone nasenwärts und mit der Wurzel nach kaudal zeigte, sowie einen überzähligen Zahn 11 als Durchbruchshindernis erkennen. „Ihr Sohn benötigt für dieses Problem vorerst einen erfahrenen Chirurgen, der die störenden Zähne operativ entfernt“, informierte ich die besorgten Eltern und riet zur Entfernung des Mesiodens, des überzähligen Zahnes 11, sowie der Milchzähne 52 51 72 82. Zwei Jahre später waren die Frontzähne des Patienten in beiden Kiefern annähernd in ihrer vorgesehenen Position eingestellt. Es handelte sich hier um eine kieferorthopädische Behandlung, auch wenn kein Apparat getragen wurde. Schließlich  konnte nach dem IOTN eine Verbesserung des Behandlungsbedarfs von Grad 5 (höchste Behandlungsnotwendigkeit) auf Grad 3 (grenzwertiger Behandlungsbedarf) erreicht werden. Zum geeigneten Zeitpunkt kann eine Multibracketbehandlung beginnen. Die Zeit davor war aber ebenfalls eine kieferorthopädische Behandlung, wenn auch ganz ohne Apparate.
So schreibt R. Hotz in seinem Lehrbuch „Orthodontie in der täglichen Praxis“: „Wesentlich ist die Erkenntnis, dass Apparate „Zahnspangen“ erst Leben erhalten in der Hand dessen, der ihre Möglichkeiten und Grenzen kennt und die Methodik beherrscht.“

MR Dr. Doris Haberler
niedergelassene Kiefer-
orthopädin in Wien
office@dr-haberler.at


Bilderserie zum Fallbeispiel:

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