Wissenschaft und Praxis: Die Zukunft der Kieferorthopädie

Wie sieht die Kieferorthopädie 2020 aus, welche Trends gibt es und wie sehr hat sich die Arbeit der Kieferorthopäden verändert - ein Gespräch mit Prof. Dr. Hans-Peter Bantleon, Bernhard-Gottlieb-Universitätszahnklinik Wien.

Herr Professor Bantleon, Sie blicken ja schon auf ein langes Berufsleben als Kieferorthopäde zurück, wie gravierend hat sich Ihr Arbeitsbereich da verändert?

Seit 30 Jahren als Kieferorthopäde stellen die Anamnese, die richtige Diagnose sowie der daraus resultierende Behandlungsplan das Gerüst für eine erfolgreiche kieferorthopädische Behandlung dar. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Am Anfang meiner Ausbildung war die Funktionskieferorthopädie und die Behandlung von Jugendlichen mit festsitzenden Apparaturen mein Hauptarbeitsgebiet. In den letzten 20 Jahren nahm die Zahl der Erwachsenenbehandlung rapide zu, wodurch besonders für komplexe Fälle die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit dem konservierenden Zahnarzt, Parodontologen, Kieferchirurgin und Prothetikerin notwendig wurde. Neue Therapiemöglichkeiten gibt es auch für Nichtanlagen, besonders der seitlichen Schneidezähne, die die Rot-Weiß-Ästhetik miteinbeziehen. Hier werden nach Marco Rosa und  Björn Zachrisson der erste Prämolar beim Lückenschluss intrudiert und der Eckzahn extrudiert und gestrippt. Das Behandlungsspektrum wurde in den letzten Jahren weiters durch den Einsatz von temporären und permanenten Implantaten enorm erweitert.

Ist die Ausbildung zum Kieferorthopäden heute anders als früher?

Die Wiener kieferorthopädische Abteilung bietet seit fast zehn Jahren, dank eines speziellen Abkommens mit der Medizinischen Universität, eine dreijährige Ausbildung entsprechend den Erasmus-Richtlinien an. Im Juli dieses Jahres wird es auch erstmals eine Prüfung abgehalten, die von Professor Dr. Adriano Crismani und Dozent Frank Weiland durchgeführt werden wird.

Welche Trends gibt es derzeit, was gibt es Neues?

Neben selbstligierenden Brackets, CT und Cone Beam wird in Zukunft die Kortikotomie eine wichtige Rolle spielen. In nächster Zeit werden neue Produkte wie zum Beispiel Gummetal (ein nickelfreies Produkt), spezielle ästhetische Drähte und neue Klebematerialien angeboten werden. Im letzten Jahrzehnt haben sich vor allem die verschiedensten skelettalen Verankerungselemente (TAD) sowohl im Oberkiefer als auch im Unterkiefer durchgesetzt. Dadurch ist es gelungen, noch mehr therapeutische Optionen wahrzunehmen, die alle unabhängig von der Patientenmitarbeit sind. So werden heute kaum noch extraoral verankerte Headgears verwendet. In Mitteleuropa stellt die Klasse II nach wie vor den Hauptanteil an Malokklusionen dar. Die Verfeinerungen und Modifikationen des doch etwas klobigen Herbstscharniers erweiterten das Spektrum der Klasse-II-Mechaniken. Für die Behandlung hyperdivergenter Klasse-III-Patienten hat sich die „Multiloop"-Therapie (Sato-Technik) im deutschsprachigen Raum durchgesetzt. Untersuchungen an meiner Abteilung haben gezeigt, dass die Multiloop-Bögen aus Elgiloy durch präaktivierte TMA-Bögen ohne Wirkungsverlust ersetzt werden können. Durch die „Kindergartenaktion" in Wien konnte ein kieferorthopädisches Screeningverfahren implementiert werden. Dadurch sehen und behandeln wir Kinder mit Laterognathien und Klasse-III-Symptomen schon ab dem fünften Lebensjahr.
Viele erwachsene Patienten wünschen eine Lingual- oder Schienentherapie (Aligner). Von mehreren Firmen wird die individuelle Gestaltung der Klebefläche und der Brackets angeboten, dadurch hat sich die Lingualbehandlung in Kombination mit den Behandlungsschritten entsprechend geformten Bögen deutlich vereinfacht.

Hat sich die Mundhygiene in den letzten Jahren verbessert?

Leider muss man dies mit Nein beantworten, wobei ein deutlicher sozialer Zusammenhang besteht.

Legen Eltern heute mehr Augenmerk auf die Zahngesundheit der Kinder und vermeiden z.B. stundenlanges Nuckeln oder Daumenlutschen?

Das beste kieferorthopädische Gerät für den Säugling ist das Stillen. Wissenschaftliche Studien haben gezeigt, dass der Schnuller dem Kind leichter abgewöhnt werden kann als Daumen- oder Fingerlutschen. Neue Schnuller mit sehr dünnem Steg (Mam-Perfect) wurden an unserer Abteilung im Labor untersucht. Die Ergebnisse zeigten eine deutliche Reduktion der benötigten Zungenkraft zum Halten des Schnullers im Vergleich zu normalen Schnullern. Dadurch soll der Entstehung eines Kreuzbisses entgegengewirkt werden.

Wo gibt es dringenden Handlungsbedarf?

Bei der Aufnahme der Zahnuntersuchung in den Mutter-Kind-Pass. Die Möglichkeit der Registrierung als Spezialist für Kieferorthopädie ist für die nationale und internationale Anerkennung von großer Bedeutung, da wir international als Gesellschaft nicht anerkannt werden. Wir haben uns in Zusammenarbeit mit dem Vienna-Convention-Büro für 2025 bei der World Federation of Orthodontics für den alle fünf Jahre stattfinden Weltkongress beworben und bekamen vom Generalsekretär William DeKock folgende Antwort:
„Thank you for your mail. Currently, WFO Bylaws require that only a WFO affiliated society can bid for an IOC.  I do not see that changing because the competition to receive that bid is very keen and it requires considerable financial risk on the part of the affiliate society. The affiliation of the Austrian Society is the first step in the process if they have any desire in this regard. Unfortunately, Austria is the only major European country that does not have an orthodontic society currently affiliated with the WFO."

Im Dezember findet das 9. IVOS in Wien statt. Was sind die wichtigsten Themen?

Zwei Präsentationen werden sich mit dem Einfluss des Alveolarfortsatzwachstums auf das kraniofaziale Wachtstum sowie mit der Position der oberen Schneidezähne im Rahmen der Diagnostik beschäftigen. Weitere Themen sind Piezochirurgie, kieferorthopädischer Knochenaufbau für Implantate, biomechanische Aspekte in der Alignertherapie, Kosten-Nutzen-Rechnung der kieferorthopädischen Behandlung sowie neue Technologien und Behandlungsstrategien.

Wir danken für das Gespräch.
Univ.-Prof. Dr. Hans-Peter Bantleon