Fallbericht: Kieferorthopädie in der Praxis

Mit der Sato-Technik, so hört man, lassen sich Zahn- und Kieferfehlstellungen korrigieren, die, behandelt man mit herkömmlichen Maßnahmen,  Extraktionen oder sogar orthognath-chirurgische Eingriffe erfordern.

Die hervorragenden Ergebnisse, die mit dem von Kim entwickelten Multiloop-Edgewise-Archwire (MEWA) speziell bei den schwierigen Klasse-III-Fällen mit offenem Biss erreicht werden, sollen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Indikation für oder gegen eine chirurgisch-kieferorthopädische Kombinationsbehandlung unabhängig von der Behandlungstechnik auf der Basis einer sorgfältigen Diagnostik getroffen werden muss. Ist dann die grundsätzliche Ursache für die Mal-okklusion  gefunden, ist es weiters unsere Pflicht als verantwortungsvolle Zahnmediziner, für jeden Patienten die geeignete Behandlungsmethode sicherzustellen.
Um entscheiden zu können, welchem Patienten ich zu einer Dysgnathieoperation raten soll, analysiere ich das seitliche Fernröntgenbild mit dem ISV nach Hollmann (grafischer IST-SOLL-Vergleich). Weichen Proportionen des Gesichtes von der Norm ab, lässt sich mit dieser Analysemethode anschaulich darstellen, wo im konkreten Fall die Ursache zu suchen ist. Dazu werden der korrekte Profilverlauf, die richtige Lage der Okklusionsebene und die Sollneigung der Achsen der Frontzähne zu dieser Okklusionsebene konstruiert. Vergleicht man „IST-" und „SOLL-Linien" am seitlichen Fernröntgenbild, kann man auf einen Blick  erkennen, welcher Behandlungsbedarf besteht, ohne dass dazu eine große Anzahl von Strecken und Winkeln vermessen und ausgewertet werden muss.

Fallbeispiel

Als Beispiel möchte ich eine 22-jährige Patientin vorstellen, deren Wunsch primär die Begradigung der Zähne im Oberkiefer war. Wie sich schon im Erstgespräch herausstellte, hoffte sie aber, dass damit gleichzeitig die Kauleistung verbessert und auch ihr Aussehen korrigiert würde. Die von frontal und von streng seitlich aufgenommenen Gesichtsfotos, wie sie üblicherweise für die kieferorthopädische Diagnostik verwendet werden, zeigten eine Patientin mit vertikalem Gesichtstyp und geradem Profilverlauf ohne gestörte Myofunktionen.
Der okklusale Befund ergab allerdings eine schwere Zahnfehlstellung mit hohem Behandlungsbedarf. Es bestand eine asymmetrische Klasse III, ein offener Biss von 17-26 und ein zirkulärer Kreuzbiss. In beiden Zahnbögen fanden sich weiters Einzelzahnfehlstellungen und geringer Platzmangel.

Abb. 1-2 (Zum Vergrößern bitte anklicken)

Meine Empfehlung zu einer kieferorthopädischen Behandlung mit Osteotomie des Oberkiefers und des Unterkiefers stieß anfangs auf Unverständnis. In der Wahrnehmung der Patientin und ihrer Angehöriger schienen die bestehenden Probleme nicht schwerwiegend genug, um solche invasiven Eingriffe zu rechtfertigen.
Doch anhand weiterer klinischer Bilder und des am seitlichen Fernröntgenbild ermittelten und dargestellten IST-SOLL-Vergleichs nach Hollmann konnte ich die notwendigen Maßnahmen  aufzeigen und meinen Therapievorschlag begründen, sodass dies auch für die Betroffenen verständlich war.
„Ihr gesamter oberer Zahnbogen liegt im Gesicht zu tief und zu weit zurück. So konnte sich  auch der Unterkiefer nicht nach vorne entwickeln und ist nach unten gewachsen. Wenn Sie wollen, dass am Ende der Behandlung nicht nur eine funktionelle Okklusion erreicht ist, sondern gleichzeitig die gesamte Oberlippe auch sub- und paranasal voller, das Kinn weniger lang und das Gummy-Smile korrigiert ist, muss der Oberkiefer nach vorne und nach kranial verschoben werden, bis sich am Fernröntgenbild die rote Lippenkontur mit der blauen überlagert und die rot durchgezeichneten Molaren auf der blauen Soll-Okklusionsebene zu stehen kommen. Anschließend kann der Unterkieferkörper nach hinten in korrekter Okklusion zum oberen Zahnbogen zurückversetzt werden, sodass die roten und blauen Konturen von Unterlippe und Kinn sich decken. Eine Zahnspange alleine kann im Oberkiefer die Zähne und insbesondere deren Wurzeln nicht ausreichend weit bewegen, und die Kinnposition wird, während die unteren Zähne zurückbewegt werden, noch weiter nach unten kommen."

Abb. 3-5 (Zum Vergrößern bitte anklicken)

Es benötigte einige Zeit, während der die Patientin offensichtlich auch eine zweite Meinung einholte und die Kieferchirurgin konsultierte, bis sie erneut in meine Ordination kam. „Ich habe mich nun für die vorgeschlagene Kombinationsbehandlung entschieden. Mit der Chirurgin habe ich bereits einen für mich passenden Operationstermin in sieben Monaten vereinbart", teilte sie mir ihren gut überlegten Entschluss mit.
Die Therapie verlief entsprechend dem Plan als Multibracketbehandlung mit bimaxillärer Osteotomie und dauerte insgesamt 22 Monate. Am Ende der Behandlung waren die Gesichtskonturen, die Okklusions-ebene und die Längsachsen der Frontzähne des Kontrollröntgenbildes mit der Sollkontur deckungsgleich.
Demensprechend hatte sich das Aussehen der Patientin verändert und das Wichtigste war - die Patientin konnte endlich gut kauen.
Prim.a.Dr. Doris Haberler