Fallbericht: Kieferorthopädie in der Praxis

Die hemifaciale Microsomie ist eine angeborene Missbildung, bei der Teile des  Unterkieferastes, das Kiefergelenk, die Kaumuskulatur sowie die umgebenden Weichteile  mangelhaft ausgebildet sind oder vollständig fehlen.
 
Diese Missbildung führt zu einer asymmetrischen Entwicklung des Gesichtes. Da das äußere Ohr miteinbezogen ist, wird sie auch als „Dysostosis otomandibularis" bezeichnet. Die Behandlung von Patienten mit diesem Asymmetrieproblem hängt vom Schweregrad der Missbildung und vom Alter der Patienten ab.
Bei Kindern mit schweren Formen der hemifacialen Microsomie, bei denen der Kondylus, der Ramus und ein entsprechender Anteil der Weichgewebe fehlen, sollten bereits frühzeitig, und zwar im  Alter von fünf Jahren, die ersten rekonstruktiven chirurgischen Maßnahmen gesetzt werden. Die fehlenden knöchernen Teile des Unterkiefers müssen durch Augmentation und Distraktion ersetzt werden um zu verhindern, dass die Wachstumstörung  progredient fortschreitet und auch die Entwicklung der Maxilla, die von der Missbildung nicht betroffen ist, behindert. Zusätzlich benötigen die jungen Patienten während der gesamten Wachstumsphase des Gesichts kieferorthopädische Maßnahmen zur Steuerung  der Kieferentwicklung und zur Behandlung des Gebisses.
Es gibt aber auch milde Formen von hemifacialer Microsomie, die keine wesentlichen  Problemen verursachen und bei denen man mit chirurgischen Eingriffen bis ins Erwachsenenalter zuwarten kann.  Meistens fühlen sich die Patienten auch ästhetisch nicht beeinträchtigt, findet man doch auch in der normalen Bevölkerung selten ein perfekt symmetrisches Gesicht.

Fallbericht

Diesmal möchte ich einen zweiundzwanzigjährigen Mann vorstellen, bei dem die linke Gesichtshälfte weniger entwickelt war als die rechte, der aber wegen der geringen Ausprägung der Asymmetrie noch keinerlei Behandlung erhalten hatte. Sein Problem war auch nicht sein Aussehen. Er wollte lediglich eine kieferorthopädische Behandlung wegen seiner okklusalen Situation -  der Kreuzbissstellung  im linken Seitenzahnbereich - und den damit verbundenen Problemen für eine prothetische Versorgung des fehlenden Zahnes 24.
Wegen der schiefen Lage des Gebisses war dem Patienten zu einer kombinierten kieferorthopädisch-chirurgische Behandlung geraten worden. Die Zahnbögen waren weitgehend harmonisch und die Stellung der Zähne zueinander eigentlich gut. Klinisch war aber schon zu erkennen, dass die Okklusionsebene zur unterentwickelten linken Gesichtshälfte deutlich anstieg. Zusätzlich waren die im Kreuzbiss stehenden Seitenzähne des Unterkieferes links wegen dem fehlenden Antagonistenkontakt bukkal an den Zähnen 25 und 26 vorbei gewachsen.
Nicht nur dem Patienten, auch mir erschien ein bimaxillärer chirurgischer Eingriff in diesem Fall sehr aufwändig und risikoreich. Er war mit meinem Vorschlag, innerhalb der gegebenen skelettalen Situation mit Hilfe einer Miniplatte zur Verankerung die Neigung der Okklusionsebene zu verbessern und den Kreuzbiss zu überstellen, sofort einverstanden.
Vor Beginn der kieferorthopädischen Behandlung wurde die Miniplatte apikal der Zähne 35 und 36 in lokaler Anästhesie eingesetzt.
Die übererruptierten linken Seitenzähne konnten somit, zu einem Segment verblockt, zum okklusalen Ende der Miniplatten hin intrudiert werden. Die Kreuzbisszähne 24 und 26 wurden anschließend  mit criss-cross Elasics überstellt und extrudiert, wobei dieselbe Miniplatte zur Verankerung verwendet wurde. Durch diese Behandlung hatte sich zwar an der Asymmetrie des Gesichtes nichts geändert, aber es konnte ein zufrieden stellendes, okklusales Resultat erreicht werden. Auch die prothetische Versorgung bei 24 war nun möglich.
Auch wenn man das Ergebnis streng genommen als Kompromiss bezeichnen muss, so sind dem Patienten doch vielen Mühen und Risiken mit dieser einfachen Behandlung erspart geblieben.

Prim.a Dr. Doris Haberler


Fallbericht: Abb. 1a - 4c (Zum Vergrößern bitte anklicken)