Fallbericht: Kieferorthopädie in der Praxis

In 25 Jahren ausschließlich kieferorthopädischer Tätigkeit haben eine Reihe von Neuerungen unseren Praxisalltag verändert. Sie betrafen nicht nur die Therapie,  sondern auch die Administration.

Eine zunehmende Anzahl von Formularen, Aufklärungs- und Informationsblättern dienen nun der besseren Patientenaufklärung sowie der Forensik.
Nur die Art der Rechnungslegung für die kieferorthopädischen Leis-tungen haben wir noch  beibehalten. Wir  stellen  als Honorar jeweils die erbrachten Leistungen in Rechnung und nicht, wie von Kostenträgern häufig gefordert, Pauschalen pro Behandlungsjahr. Denn ob eine Zahnspange ein, zwei oder drei Jahre getragen wurde und ob es sich um ein abnehmbares oder festsitzendes Gerät gehandelt hat, eignet sich als Kriterium zur Leistungsbeurteilung für Fachfremde, ist aber einer zielgerichteten, effizienten Therapie häufig hinderlich.

Fallbericht:

Als Beispiel möchte ich einen Buben vorstellen, der im Alter von neun Jahren zur kieferorthopädischen Behandlung zugewiesen wurde. Nach der klinischen Untersuchung der Okklusion befand sich das Kind im frühen Wechselgebiss. Es bestand eine Angel Klasse-I-Verzahnung mit Raummangel in beiden Kiefern für die seitlichen Schneidezähne, und die oberen Zweier brachen palatinal im Kreuzbiss durch. In den Stützzonen fehlte links oben und rechts unten jeweils der Milchdreier (Abb. 1a, b, c,).
Das mitgebrachte  OPTG zeigte weiters eine Aplasie der Zähne 15, 35 und 45, die Anlage von 25 ließ sich auf dieser Aufnahme nicht eindeutig erkennen (Abb. 1d).

Abb. 1a-1d (Zum Vergrößern anklicken)
„Bei Ihrem Sohn besteht ein Missverhältnis zwischen Kiefergröße und Zahngröße und gleichzeitig fehlen einige bleibende Zähne. Aus diesem Grund sollten die drei Milchfünfer, die keinen Nachfolger haben und deshalb nicht von alleine ausfallen, sowie eine linker oberer Prämolar entfernt werden", informierte ich die Eltern nach Auswertung aller relevanten Unterlagen.
„Werden diese Extraktionen in Abhängigkeit von der Gebissentwicklung in der richtigen zeitlichen Reihenfolge durchgeführt, können die benachbarten Zähne in die Lücken durchbrechen, und diese werden sich spontan schließen. Diese Maßnahmen können zwar eine Zahnspange nicht ersetzen, aber die Tragezeit wesentlich verkürzen", erklärte ich weiters meinen Behandlungsplan.
Wir starteten die Therapie, und ich ordnete primär die Extraktion von 53 und 73 aus kieferorthopädischen Gründen an, um ausreichend Platz für die seitlichen Schneidezähne zu schaffen und eine Verschiebung der Zahnmitten möglichst zu verhindern.
Drei Monate später und nach den Sommerferien - der Zahnarzt hatte in der Zwischenzeit die notwendigen Extraktionen durchgeführt - erhielt der Patient einen „Elastisch Offenen Aktivator" nach Klammt zur korrekten Einordnung der Frontzähne. Das konnte mit drei Kontrollordinationen zur Aktivierung der Fingerfedern und einer nächtlichen Tragedauer von fünf Monaten erreicht werden (Abb. 2a, b und c). Weitere Folgetermine zur Kontrolle der Gebissentwicklung vergab ich im Abstand von vier bis sechs Monaten, jedenfalls im Geburtsmonat.
Abb. 2a-2c sowie Abb. 3 (Zum Vergrößern anklicken)
Ein neuerliches Panoramaröntgenbild im Alter von elf Jahren zeigte, dass die Wurzelentwicklung der Vierer zu diesem Zeitpunkt noch nicht ausreichend weit fortgeschritten war (Abb. 3). Um einen spontanen Lückenschluss bei möglichst geringer Kippung der benachbarten Zähne zu erreichen, erfolgten die Extraktionen von 55, 65, 75 und 85 daher ein halbes Jahr später. 
Auch wenn der obere linke Fünfer, der nun am Röntgenbild deutlich als verlagert zu erkennen war, einen erschwerten Durchbruch erwarten ließ, entschied ich mich nicht für seine operative Entfernung, sondern für die Extraktion von 24, die im Alter von 13 Jahren durchgeführt wurde.
Abb. 4a-4d (Zum vergrößern anklicken)
Abb. 5a-5c (Zum Vergrößern
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Mit 15 Jahren und sechs Monaten waren alle Zähne durchgebrochen und die Lücken geschlossen. Auch der linke obere Fünfer war in der Mundhöhle sichtbar (Abb. 4a, b und c). Das OPTG zeigte eine gute Stellung der Wurzeln  (Abb. 4 d).Die Behandlung der verbliebenen Fehlstellung der Okklusion erfolgte mit einer Multibracketapparatur innerhalb eines Jahres (Abb. 5a, b und c). Am Beginn dieser letzten Maßnahmen erhielt ich einen Anruf von der Versicherung des Patienten. Eine Dame wollte von mir wissen, seit wie vielen Jahren sich der Patient bei mir in Behandlung befand und welche Geräte in dieser Zeit verwendet worden waren.
„Der Patient befindet sich seit dem neunten Lebensjahr bei mir in Behandlung und in den letzten Jahren hat er keine Zahnspange getragen", war meine  Antwort. „Für welche Leistungen haben Sie dann in dieser Zeit Honorare gefordert?", fragte die Dame weiter. „Meine Leistungen waren, wie aus den Kostennoten ersichtlich, die Kontrolle der Gebissentwicklung und Verhaltensempfehlungen", beantwortete ich auch diese Frage. Und weil eine kieferorthopädische Behandlung ohne Geräte nicht bezuschusst wird, ist es nicht verwunderlich, dass der Patient, der den Vorteil nicht kennt, diese als gering einschätzt. Dabei haben Kjellgren und später Hotz bereits vor mehr als 50 Jahren Extraktionen zur Steuerung des Zahndurchbruchs als spezielle kieferorthopädische Therapie beschrieben.
Zuletzt widmete sich Prof. Dr. Weiland in seinem vielbeachteten Vortrag am IVOS 2012 diesem Thema. Nach seinen auf wissenschaftliche Untersuchungen gestützten Ausführungen, verkürzt sich dadurch, verglichen mit herkömmlichen Maßnahmen, zwar nicht die Dauer der Gesamtbehandlung, jedoch der Anteil mit fixen Apparaten erheblich.

Prim.a Dr. Doris Haberler