Fallbericht: Kieferorthopädie in der Praxis

Man hat manchmal den Eindruck, dass die Kieferorthopädie in der Frage Extraktion oder Expansion am Stand von vor hundert Jahren steht.

Ich erinnere an die historisch belegte Debatte im Jahr 1911 zwischen Case und Dewey. Calvin Case war zu dieser Zeit ein bekannnter und bedeutender Lehrer der Kieferorthopädie mit mehr als dreißigjähriger Berufserfahrung. In seinem Vortrag befürwortete er Zahnextraktionen als Behandlungsmaßnahme in der Kieferorthopädie. Er stellte seine Ansicht, dass dies in bestimmten, nach genauen Regeln festgestellten Fällen nötig sei, wolle man zufriendenstellende Ergebnisse erreichen, als sogenannte „Rationale Schule“ vor. Dem widersprach Martin Dewey, ein ebenfalls anerkannter Spezialist und  Anhänger  von Edward Angels  „Neuer Schule“ in der anschließenden Diskussion heftig. Wie wir wissen, vertrat Angle die generelle Anwendbarkeit der „Theorie der  Normalokklusion“, nach der jeder Zahn seine ideale Position und Funktion haben muss. Extraktion war demnach eine Verfälschung und konnte nach Angles Meinung niemals zu brauchbaren Ergebnissen führen. Die unterschiedlichen Standpunkte von Cases „Rationaler Schule“ und Angles „Neuer Schule“ waren Anlass für viele weitere Auseinandersetzungen, die wortgewaltig, angeblich sogar auch mit der Waffe  ausgetragen wurden. Angel selbst beteiligte sich an solchen Streitgesprächen nicht. Für ihn gab es hier nichts zu diskutieren. Schließlich stand die Mehrheit der Kieferorthopäden treu hinter ihm. Immerhin hatten sie den Vorteil, dass sie auch für Fälle, die nach Case möglicherweise Extraktionen erforderten, keine  Differenzialdiagnose benötigten, weil  diese Maßnahmen von vorneherein ausgeschlossen waren.
Hundert Jahre später ist das Thema Extraktion oder nicht Extraktion noch immer aktuell. Zwar werden die unterschiedlichen Standpunkte nicht mehr so heftig, aber dennoch sehr emotional abgehandelt. Als Praktiker ist man auch jetzt wieder geneigt, jenen zu glauben, die behaupten, dass die Entfernung bleibender Zähne nicht mehr nötig ist, wenn man die neuen, modernen Nichtextraktionsbehandlungsmethoden anwendet.

Fallbericht

Ich möchte dazu einen jungen Erwachsenen als Fallbeispiel vorstellen. Der 21 Jahre alte Patient kam mit dem Wunsch in die Ordination, seine fehlstehenden Zähne in der Font begradigen zu lassen. Obwohl hier eine sogenannte Pseudoprogenie vorlag, was bedeutete, dass er in Relation zur Mandibula  eine  kleine Maxilla hatte, war der Frontengstand im Oberkiefer geringer  als im Unterkiefer. Weil es sich in diesem Fall um einen großen, kräftigen Mann handelte, entschied ich mich, der Meinung folgend, dass so ein Patient auch einen großen, breiten Zahnbogen benötigt, für eine Nichtextraktionsbehandlung.
In kurzer Zeit konnten die Zahnbögen ausgeformt und der Engstand aufgelöst werden. Was die faciale Ästhetik betraf, kam es allerdings  nicht zu den erhofften positiven Effekten. Ich mußte erkennen, dass ich, was  ja zu erwarten gewesen war, die unteren Zähne unnatürlich weit prokliniert hatte. 
„Meine Behandlung hat zu stark nach vorne geneigten Frontzähnen geführt und die Konturlinie Ihrer Lippen hat sich deshalb unschön verändert“, argumentierte ich meine Entscheidung, den Plan zu ändern und die Behandlung als Extraktionsfall zu beenden. Der Patient  konnte meinen Überlegungen folgen und stimmte dem geänderten Vorgehen zu. Dem Vorwurf, dass ich die neuen Nichtextraktionstechniken nicht ausreichend beherrsche, kann ich nun nichts entgegenhalten. Im konkreten Fall würde ich, könnte ich noch einmal beginnen, wieder die Extraktionstherapie wählen.

Prim.a Dr. Doris Haberler


Bilderserie zum Fallbeispiel:

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