Kieferorthopädie in der Praxis - Raummangel im Unterkiefer

Der Raummangel im Unterkiefer ist bis zuletzt eine der großen Herausforderungen in der Kieferorthopädie. Nicht selten sitzt man als Kieferorthopäde vor Planungsunterlagen, und die Entscheidung, ob der konkrete Patient als Extraktionsfall behandelt werden soll oder nicht, fällt schwer.

Eine Reihe von diagnostischen Richtlinien limitiert die Expansion: Die untere Front steht in der neutralen Zone der Muskulatur und sollte nicht prokliniert werden, die Eckzahndistanz ist bei jedem Patienten eine stabile Größe und soll nicht verändert werden und eine transversale Verbreiterung des Zahnbogens ist nur dann statthaft, wenn die Seitenzähne nach lingual gekippt sind und nur aufgerichtet werden müssen.

Abb. 1: Ausgangssituation.

Auf der anderen Seite ist eine Extraktionstherapie sowohl für den Arzt als auch für den Patienten eine unbeliebte Maßnahme. Die Entfernung von bleibenden Zähnen ist ein irreversibler Eingriff, der kieferorthopädische Lückenschluß erweist sich oft als schwierig und es besteht die Sorge, dass die Gesichtsästhetik negativ beeinflusst wird .

Da will man es gerne glauben, wenn man hört, dass die neuen selbstligierenden Bracketsysteme Zahnbewegungen ermöglichen, die mit herkömmlichen Methoden nicht realisiert werden können, was die Extraktionsnotwendigkeit erheblich senkt.

Abb. 2: Bracketsystem

Mein 16-jähriger Patient zeigt einen ausgeprägten Engstand im unteren Zahnbogen. Obwohl die unteren Frontzähne bereits protrudiert stehen, handelt es sich hier nicht um einen Extraktionsfall (Abb. 1: a-c). Das Gesicht ist breit und die Entfernung von bleibenden Zähnen hätte einen negativen Einfluß auf die Ästhetik im Mundbereich.

Für die notwendige transversale Verbreitung klebe ich in diesem Fall gewöhnliche Straightwire-Edgewisebrackets in beide Kiefer.

Die initialen, dünnen, superelastischen Bögen werden in jedes Bracket einligiert. Der obere Zahnbogen ist schnell ausgeformt und wird mit einem Stahlbogen stabilisiert. Criss-Cross Elastics, die der Patient selbst einhängen kann, unterstützen die von buccal wirkenden Kräfte der Nitinol-Drähte auf die Bogenentwicklung im Unterkiefer.

Abb. 3: Fünf Jahre nach
Abnahme aller Brackets

Um die nach lingual gekippten, im Schachtelbiss stehenden unteren Praemolaren aufrichten zu können, erhält der Patient auf den oberen zweiten Molaren Aufbisse aus blauem Zement als Bissspere (Abb. 2 a-c).

Ein halbes Jahr später passen die beiden Zahnbögen in der Transversalen zueinander und nach einer Gesamtbehandlungszeit von einem Jahr und sieben Monaten werden alle Brackets entfernt.

Ein lingual geklebter Retainer in der unteren Front und Essixschienen für beide Kiefer sollen die Zahnstellung retinieren. Fünf Jahre nach Ende der Behandlung ist ein geringes Rezidiv aufgetreten. Die Seitenzähne sind aber gut verzahnt (Abb. 3 a-c), und beim Lachen ist breiter Zahnbogen ohne Engstand der Frontzähne zu sehen (Abb. 4).

Obwohl ich, abgesehen von wenigen Ausnahmen, seit vielen Jahren selbstligierende Brackets verwende, glaube ich nicht, dass dieser Patient damit sein Behandlungsziel schneller erreicht hätte und stelle mich mit dem Fallbeispiel in die Reihe jener, die behaupten, dass die Wahl des Bracketsystem keinen Einfluß auf den Behandlungsplan und das Behandlungsergebniss hat.

Prim. Dr. Doris Haberler

Abb. 4: Fünf Jahre nach Ende der Behandlung.