Kieferorthopädie in der Praxis

Zum Thema Patientenaufklärung und Haftung möchte ich ein junges Mädchen vorstellen, dass ich besonders liebgewonnen habe, obwohl oder gerade weil es mir seit der ersten Konsultation viele Sorgen bereitet hat.

Einer ihrer Brüder war bereits in meiner Ordination in Behandlung gewesen. Die von mir erstellten Anfangsbefunde zeigen seine Situation nach vielen Jahren kieferorthopädischer Behandlung im Ausland. Ein vertikaler Gesichtstyp, Klasse-III -Verzahnung, zirkulär offener Biss mit Okklusionskontakt nur bei 27 zu 48, ausgeprägte Wurzelresorptionen an allen Zähnen.

Abb. 4: Die Ausgangssituation

 

Bei dieser Diagnose war nur eine neuerliche Multibracketbehandlung in Kombination mit einer Oberkiefer- und Unterkieferosteotomie zielführend. Der junge Mann befand sich schon in der Retentionsphase, als mich seine Mutter um einen Begutachtungstermin für ihre jüngste Tochter ersuchte. Nach der klinischen Untersuchung zeigte das Mädchen im frühen Wechselgebiss eine Tendenz zur Progenie bei tiefliegender Zunge, im Oberkiefer eine kleine apikale Basis und einen ausgeprägten Raummangel, einen offenen Biss und einen Kreuzbiss von 16-26, ausgenommen die zentralen Schneidezähne (Abb. 4-6).

Abb. 6: Die Ausgangssituation

Der Wunsch der Mutter war gut nachvollziehbar: Sie wollte ihrer Jüngsten die Probleme und die Schwierigkeiten, die der Sohn in 15 Jahren kieferorthopädischer Behandlung hatte, unbedingt ersparen. Sie schenkte mir ihr Vertrauen. Ich sollte die Tochter behandeln - effizient und ohne Chirurgie.

Vorweg sprach ich mit den Eltern über meine Sorgen wegen der vielen Ungewissheiten und der Probleme, die diese Behandlung mit sich bringen würde.

• Der Vater und die Brüder waren progene Gesichtstypen - welchen Einfluss die genetische Komponente haben würde, konnte ich nicht einplanen.
 

Abb. 7: Rasche Gaumennaht-erweiterung und Gesichtsmaske

• Die Familie lebte meistens und über lange Zeiträume im Ausland - würde es trotz sorgfältig geplanter Terminvergabe dadurch negative Auswirkungen auf den Behandlungsverlauf und auf die Behandlungsdauer geben?

• Die Geschwister waren alle wesentlich älter, und es kostete mich schon Mühe, bis ich genug Vertrauen gewonnen hatte und das Mädchen die Gebissabdrucknahme erlaubte. Konnte ich erwarten, dass die Patientin meine Anordnungen befolgen und bei Problemen im Ausland eine Kooperation mit mir suchen würde?

Abb. 10: Entfernung der Kappenschiene.

Weiters informierte ich über die Behandlungsnotwendigkeiten:
• Beginn sofort
• Rasche Gaumennahterweiterung mit Kappenschiene und Klasse-III-Züge zur Gesichtsmaske zur Kreuzbissüberstellung
• Ein halbes Jahr Retention
• Funktionskieferorthopädie und Logopädie während des Zahnwechsels
• Anschließend Feineinstellung mit Multibracketapparatur

Ich entschied mich für die Behandlung, weil ich in diesem Fall mit der Kooperationsbereitschaft der Eltern rechnete und weil Nichtbehandeln ein Fehler gewesen wäre.

Abb. 13: War die Wurzel von 12 tatsächlich resorbiert?

Rasche Gaumennahterweiterung und Gesichtsmaske (die Patientin war drei Wochen in Wien) (Abb. 7-8). Entfernung der Kappenschiene nach einem halben Auslandsjahr (Abb. 9-10). Retention mit Funktionskieferorthopädie und Logopädie (die Patientin kam nur während der Schulferien zur Kontrolle) (Abb. 11-12).

Nach dem Durchbruch der oberen Vierer fehlte der Raum für die Eckzähne. Der Platz für die Dreier musste geschaffen werden, denn die Extraktion von Prämolaren hätte diesen Fall zu einem chirurgischen Fall gemacht. Das OPTG, das zu Beginn der Multibracketbehandlung angefertigt worden war, brachte noch einmal Anlass zur Sorge: War die Wurzel von 12 tatsächlich resorbiert (Abb. 13)?

Die Familie war bereits wieder im Ausland. Ich ersuchte die Mutter um ein CT zur Darstellung der Wurzeln in Regio 13 und 12. Die CD kam mit der Post, und ich hatte die Sicherheit, dass die Wurzelspitze des Zweiers am OPTG lediglich außerhalb der Schicht lag (Abb. 14). Der Feineinstellung der Okklusion steht jetzt hoffentlich nichts mehr im Weg (Abb. 15).

Prim. Dr. Doris Haberler

(Aus Platzgründen können im Internet leider nicht alle Abbildungen dieses Artikels dargestellt werden. Das komplette Bildmaterial finden Sie in der Printausgabe. Anm. d. Webredaktion)  

Abb. 15: Vorläufiges Ergebnis