Fallbeispiel - Kieferorthopädie in der Praxis

Jeder Kieferorthopäde wünscht sich Patienten, die mit der Behandlung zufrieden sind, und vor allem solche, die die Praxis weiterempfehlen. Was man tun muss, um diese Loyalität bei unseren Patienten zu erreichen kann man in verschiedenen Weiterbildungsseminaren und aus zahlreichen Beiträgen in Fachzeitschriften erfahren.

Eine fachlich kompetente Behandlung alleine, ist hier die einhellige Meinung, ist nicht ausreichend. Schließlich kann der Patient meist nicht beurteilen, ob durch die therapeutischen Maßnahmen ein gutes oder das bestmögliche Ergebnis erreicht wurde. Um Begeisterung auszulösen, sind deshalb verschiedene andere Faktoren zu beachten. Ganz oben auf der Liste stehen moderne Bracketsysteme und die damit erwartete kürzere Behandlungsdauer sowie keine Wartezeiten zu den vereinbarten Terminen.

Ein Fallbeispiel zur Diskussion

Meine Patientin wurde im Alter von neun Jahren unserer Ordination zugewiesen. Sie zeigte einen Distalbiss mit einer Frontzahnstufe von mehr als 6mm und myofunktionelle Probleme mit Verschlechterungstendenz. Nach dem Okklusalindex (IOTN) handelt es sich hier um einen Schweregrad 5, und wäre somit heute mit der Gratiszahnspange zu behandeln. Viele Kinder, die eine Zahnspange benötigen, weisen diese Art der Fehlstellung auf. Sie lässt sich großteils mit dem vertraglich vereinbarten standardisierten Behandlungsprotokoll korrigieren. Man darf aber nicht außer Acht lassen, dass gerade diesem klinischen Erscheinungsbild auch Dysgnathien zugrundeliegen, deren Ursachen durch unterschiedlich schwere angeborene motorische und geistige Defizite bedingt sind.
Die Behandlung solcher Patienten stellt auch andere Anforderungen an die behandelnden Ärzte. Im Falle meiner Patientin beispielsweise machten es eine kombinierte umschriebene Entwicklungsstörung  und eine angeborene Ataxie schon schwierig, abzuwägen, ob ich eine notwendige Multibracketbehandlung überhaupt beginnen sollte, da es fraglich war, ob ein Ergebnis erreicht werden kann, das den in diesem Fall sicherlich besonders hohen Aufwand rechtfertigt.
„Bitte ersparen Sie unserer Tochter das Erstellen von Röntgenbildern und Modellen. Sie bleibt nicht ausreichend lange ruhig sitzen“, meinten die besorgten Eltern und vermittelten so die ersten Einschränkungen noch vor Behandlungsbeginn. Trotzdem erwarteten sie sich von mir als Spezialistin für Kieferorthopädie eine kompetente und fachgerechte Übernahme der Betreuung.
Nach Abschluss des Zahnwechsels startete ich daher nach Absprache mit dem Zahnarzt eine Extraktionstherapie. Als Ziel wünschten wir uns vorerst, den Lippenschluss durch Retraktion der oberen Front zu erleichtern. Vier bleibende Zähne mussten in Allgemeinnarkose entfernt werden. Um die Patientin nicht zu überfordern, erfolgten die Extraktionen und das Bekleben der Zähne schrittweise. Ich wählte ein nicht selbstligierendes, besonders flaches Bracketsystem, das die Wangenschleimhaut möglichst wenig irritieren sollte. Schließlich machte die gute Zusammenarbeit aller Beteiligten in einer positiven, motivierten Atmosphäre ein in jeder Hinsicht zufriedenstellendes Behandlungsergebnis möglich: Ein ungezwungener Lippenschluss konnte erreicht werden, die Extraktionslücken waren geschlossen und der horizontale und vertikale Überbiss entsprach der Norm.
Die Hauptbehandlungszeit war mit zwei Jahren und sechs Monaten länger, als es dem Durchschnitt entspricht, und lässt sich mit dem in diesem Fall notwendigen langsamen, schrittweisen Vorgehen erklären. Ich teile die Meinung vieler Experten, dass ein gewähltes Bracketsystem keinen Einfluss auf die Behandlungsdauer hat. Auch konnten die Stuhlzeiten, für die ohnehin jedesmal Überzeiten eingeplant waren, nicht immer eingehalten werden. Komplexe kieferorthopädische Probleme, wie sie im Falle meiner Patientin vorlagen, erfordern individuelle Maßnahmen. Da lassen sich Wartezeiten für nachfolgende Patienten nicht immer vermeiden. Ich persönlich bin dabei immer auf Verständnis gestoßen. Umgekehrt will jeder Patient die Gewissheit, dass auch für ihn erforderliche, nicht eingeplante Behandlungsschritte durchgeführt und nicht auf Folgetermine verschoben werden.
Schließlich führt problemorientiertes, individuelles Vorgehen zu Effizienz im Behandlungsverlauf und zu bestmöglichen Endergebnissen, und das wiederum bedingt Motivation und Begeisterung des Kieferorthopäden für seine tägliche Arbeit. Auch dieser wichtige Faktor soll nicht unberücksichtigt bleiben.

MR Dr. DORIS HABERLER
niedergelassene
Kieferorthopädin in Wien
office@dr-haberler.at

 

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