Fallbeispiel: Kieferorthopädie in der Praxis

Die Angel-Klasse-II/1 zählt zu den häufigsten Fehlstellungen, die wir in der täglichen Praxis sehen. Fragt man nach, wie diese Fälle heutzutage richtig zu behandeln sind, erhält man nach wie vor die unterschiedlichsten Behandlungsempfehlungen, und es werden nicht weniger, sondern mehr.

Während die einen funktionskieferorthopädische Geräte, die es in verschiedensten Modifikationen gibt, verwenden, bevorzugen andere sogenannte „Non-Compliance“- Geräte wie das Herbstscharnier und seine Derivate. Eine Distalisierung oberer Molaren kann auf bewährte Weise mit dem orthodontischen Head Gear durchgeführt werden, dennoch bleibt dieser als extraorales und mitarbeitsabhängiges Gerät immer häufiger in der Schublade liegen und wird durch intraorale Apparaturen mit zuletzt Minischraubenverankerung ersetzt. Manche verzichten überhaupt auf spezielle Klasse-II-Apparaturen und arbeiten mit „Low-Friction“-Brackets und Klasse-II-Gummizügen.
Genauso schwierig wie die Entscheidung, welches das geeignete Gerät ist, ist die Wahl des richtigen Zeitpunktes für den Beginn der Behandlung. Soll man rechtzeitig, im frühen Wechselgebiss einer gestörten Gesichtsentwicklung, verursacht durch abnorme orofaziale Funktionsmuster, entgegenwirken, oder soll man zuwarten, um im späten Wechselgebiss gleichzeitig auch die Platzreserven durch Molarendistalisierung und Erhalten des „Leeway space“ optimal nutzen zu können? Viele beginnen überhaupt lieber erst zur Zeit des pubertären Wachstumsschubs im frühen Erwachsenengebiss, um eine kurze, aktive Therapiezeit und ein möglichst stabiles Behandlungsergebnis zu erzielen.
Schließlich wird die Entscheidungsfindung noch von nicht fachlich begründeten Faktoren beeinflusst: So gibt es Anhänger von Behandlungsphilosophien, deren Wirkung sich weniger auf einen wissenschaftlichen Nachweis, sondern auf die langjährigen Erfahrungswerte der Anwender stützt. Eine große Rolle spielt auch die Industrie, die immer wieder neue Apparaturen entwickelt, verkaufen will und dementsprechend professionell bewirbt. Nicht zu vergessen ist der Einfluss der Krankenkassen als Kostenträger, die sich aufgrund ökonomischer Überlegungen kontrollierbare, kochrezeptartige Behandlungskonzepte wünschen.

Fallbeispiel

Anhand eines Fallbeispiels mit Angel-Klasse-II/1 möchte ich diskutieren, wie individuell die Anforderungen tatsächlich sind und dass auferlegte Einschränkungen in der Therapie zwangsläufig dazu führen, dass ein mögliches Behandlungsziel nicht erreicht wird.
Die Patientin kam im Alter von siebeneinhalb Jahren mit ihrer Mutter in die Ordination. Sie befand sich im frühen Wechselgebiss und hatte eine Klasse-II/1-Verzahnung mit großer horizontaler Frontzahnstufe. Die Unterlippe befand sich hinter den Kronen der oberen Frontzähne. Wegen der großen sagittalen Stufe war es der Patientin gar nicht mehr möglich, eine physiologische normale Lippenposition einzunehmen. Die Mutter berichtete von einem exzessiven Daumenlutschhabit und meinte: „Meine Tochter möchte sich nun das Daumenlutschen abgewöhnen, und wir hätten gerne eine Zahnspange, die die Stellung ihrer vorstehenden Frontzähne korrigiert.“
Die Patientin beendete ihre Lutschgewohnheiten und ich startete die kieferorthopädische Behandlung mit einer Aktivatormodifikation. Das funktionskieferorthopädische Gerät sollte helfen, die  strukturellen und funktionellen Abwegigkeiten der mandibulären Retrognathie  bei Klasse-II/1 zu beheben. Im Verlauf der Behandlung wurde eine Klasse-I-Verzahnung  beinahe erreicht und die Frontzahnstufe reduziert. Der erhoffte ungezwungene Lippenschluss  war trotzdem nicht möglich. Die Unterlippe musste nun, bedingt durch ihre zu kurze Oberlippe und das vertikale Wachstum ihrer Kiefer, zum Schließen aktiv vor die obere Front  hochgeschoben werden. Ich setzte das Gerät ab, weil es trotz sorgfältiger Adaptierung nicht verhindern konnte, dass die Achsenneigung der oberen Front zunehmend steiler wurde.  Die Patienten war  kein Klasse-II/1-Fall und mit Fortschreiten der Gebissentwicklung waren die für eine Klasse-II/2 typischen Zeichen nicht mehr zu übersehen. Dazu zählen neben dem Deckbiss die große apikale Basis im Oberkiefer und die hohe Lippenlinie. Zu einem der Konrolltermine kam auch der Vater mit in die Ordination, und dieser hätte die Vaterschaft nicht leugnen können. Von ihm hatte die Tochter das retrognathe, vertikal wachsende Gesicht, das konkave Profil und den Deckbiss geerbt.
Eine fixe Zahnspange, die ich für die mittlerweile Vierzehnjährige vorgesehen hatte, wollte die Tochter nicht und wurde auf Wunsch der Eltern nicht eingesetzt. Die Fehlstellung war nach der heute geforderten IOTN-Klassifizierung für eine Kostenübernahme durch die Krankenkasse zu diesem Zeitpunkt auch nicht ausreichend schwerwiegend.
Sieben Jahre später kam die Patientin – einundzwanzigjährig und Studentin – erneut in die Ordination und klagte: „Meine Zahnstellung wird immer schlechter und ich möchte nicht die Probleme bekommen, die mein Vater jetzt hat. Er knirscht, seine Frontzähne sind schon ganz schief und abgerieben und er kann nicht gut kauen.“
Es war ein guter Zeitpunkt, die geplante Multibracketbehandlung nun zu starten. Der Tiefbiss mit traumatischem Einbiss ins palatinale Zahnfleisch rechtfertigte den hohen Behandlungsbedarf. Das Wachstum war abgeschlossen und konnte das Ergebnis nicht mehr ungünstig beeinträchtigen, und der Patientin war bewusst, dass die Kieferorthopädie ihren Genotyp nicht verändern und ihre Oberlippe nicht verlängern kann. Sie wird sich um die Retention des Behandlungsergebnisses bemühen. Aus heutiger Sicht wäre nur das Alter nicht passend gewesen. Das war aber damals kein Thema.

MR Dr. DORIS HABERLER
niedergelassene
Kieferorthopädin in Wien
office@dr-haberler.at



Bilderserie zum Fallbeispiel:

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