Fallbeispiel - Kieferorthopädie in der Praxis:

Wenn Politiker über das hervorragend gute Gesundheitssystem in unserem Land sprechen, dann meinen sie in erster Linie die hochspezialisierte Apparatemedizin in ihren prestigeträchtigen Krankenhäusern, Ambulanzen und Ambulatorien. 

Die Betreuung und das ärztliche Gespräch niedergelassener Praktiker  finden jedoch viel zu wenig Anerkennung. Hier finden sich durchaus auch Parallelen zur Kieferorthopädie. Die offensichtliche Schieflage in der Beurteilung medizinischer Leis-tungen möchte ich anhand eines Fallbeispiels erörtern.
Die junge Patientin, die im frühen Wechselgebiss mit ihrer Mutter in unsere Ordination kam, zeigte nach der klinischen Untersuchung einen dem Alter entsprechenden Zahnstatus ohne besonders auffälligen Befund. Zahn 11 war gerade im Durchbruch, und es war anzunehmen, dass der Wechsel der linken Einser unmittelbar bevorstand. Das spezifische Problem der Patientin war erst anhand eines Panoramaröntgenbildes zu erkennen. „Meine Tochter ist ein ganz besonders schwieriger Fall“,  berichtete die Mutter, die sich über die Fehlentwicklung im Gebiss des Mädchens bereits ausführlich vorinformiert hatte. „Sie benötigt sicher schon jetzt eine kieferorthopädische Behandlung, denn ihre Zähne stehen im Kieferknochen ganz schief!“ Tatsächlich zeigte ein angefertigtes Röntgenbild einen sowohl in seiner Lage als auch in seiner Durchbruchsrichtung von der Norm abweichenden seitlichen linken Schneidezahn, der ganz offensichtlich ein Durchbruchshindernis für den linken Einser darstellte.
Mit meiner ersten Therapiemaßnahme, der Anordnung zur Extraktion von 61 und 62 – so hatte ich den Eindruck – waren die beiden Betroffenen nicht ganz einverstanden. Sie hatten erwartet, dass in ihrem Fall mithilfe eines Dental-CTs eine genaue Lagebestimmung und anschließend, möglichst schmerzlos in Allgemeinanästhesie eine operative Freilegung und kieferorthopädische Einordnung der Zähne erfolgen würde. Ein  entsprechendes Aufklärungsgespräch konnte  die Mutter überzeugen, dass die Entfernung der zwei Milchzähne primär notwendig war. Auch dem Kind konnte ich den Eingriff erklären – schließlich waren hier Milchzähne mit vollständig ausgebildeten Wurzeln zu extrahieren – und es auf die Folgen vorbereiten:  es war ja zu erwarten, dass die Lücke in der linken oberen Front lange bestehen würde.
Zehn Monate nach diesen ersten Therapieschritten zeigte eine Zwischendokumentation den nun möglichen weiteren Durchbruch der linken Frontzähne. Die kleine Patientin war, wie ich auch erwartet hatte, durch die bestehende Lücke wenig beeinträchtigt und freute sich schon auf den Durchbruch ihrer bleibenden Zähne. Zu diesem Zeitpunkt wurde schließlich auch der linke Milcheckzahn entfernt.
Anhand der weiteren dokumentierten Patientenbefunde konnte man verfolgen, wie  sich die Frontzähne spontan richtig einstellten und schließlich das ursprüngliche, scheinbar so schwere kieferorthopädische Problem gelöst war. Wegen der vorliegenden Hypoplasie der Zweier und der lückigen oberen Front  war die Mutter dennoch nicht ganz zufrieden und meinte:  „Wir hätten  über all die Zeit auch eine Zahnspange akzeptiert. Wir vertrauen Ihnen aber, wenn Sie sagen, dass wir im Falle unserer Tochter damit noch zuwarten sollten“. Ich glaube, sie dachte,  eine  teure Zahnspange hätte  ein  besseres Ergebnis gebracht als mein „Nichtstun“. Es ist verständlich, dass für Fachfremde der Aufwand für apparative Maßnahmen in der Medizin, mit deren Hilfe ein bereits eingetretener Schaden behoben wird, leichter zu bewerten ist als der Nutzen der ärztlichen Beratung und Betreuung, die sein Entstehen verhindert. Dennoch stellt sich die Frage, ob nicht an der falschen Stelle gespart wird, wenn, im Gegensatz zur teuren Apparatemedizin, kein angemessenes Honorar vorgesehen ist.

MR Dr. DORIS HABERLER
niedergelassene
Kieferorthopädin in Wien
office@dr-haberler.at



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