Fallbericht - Kieferorthopädie in der Praxis:

Es ist nicht meine Art, Patienten aus Fallbeispielen mit ihrem Vornamen zu benennen, so wie ich das schon andernorts beobachten konnte. Diesmal mache ich aber eine Ausnahme. Mein Patient, den ich diesmal vorstelle, heißt Stefan, genau so wie eines meiner eigenen Kinder.

Stefan kam im Alter von viereinhalb Jahren an die Klinik für Kieferchirurgie. Nach Angabe der Eltern war der linke Unterkiefer wegen eines Desmoidfibroms auswärts reseziert und durch ein Rippentransplantat ersetzt worden. Meine Aufgabe als junge Kieferorthopädin war es, in der maxillo-fazialen Ambulanz die kieferorthopädische Betreuung dieses Kindes zu übernehmen. Wie bei vielen anderen Kindern mit schweren kraniofazialen Anomalien, die teilweise zusätzlich körperliche und manchmal auch geistige Gebrechen aufwiesen, fragte ich mich, wie ich nun vorgehen sollte. In solchen Fällen hatte ich für eine effiziente, zielgerichtete kieferorthopädische Behandlung kein Konzept parat.
„Sie müssen die orthodontische Betreuung dieser Kinder jeweils eben nach bestem Wissen und Gewissen übernehmen“, forderte Prof. Dr. Johanna Leber, meine Lehrerin an der Klinik, die Übernahme der Behandlung. „Diesen Kindern und ihren Eltern zu helfen, und sei der Erfolg auch gering, ist wichtiger als das Erreichen einer noch so perfekten Okklusion in skelettal gesunden Gebissen.“
Stefan folgte mir als Patient in meine Ordination und ich startete mit einer abnehmbaren Apparatur, die das mandibuläre Wachstum stimulieren und einer pathologischen Anpassung des Oberkiefers an die gestörte Entwicklung des Unterkiefers entgegenwirken sollte. Es folgten je nach medizinischen Erfordernissen weitere festsitzende und abnehmbare Zahnspangen in Abstimmung mit den folgenden, notwendigen chirurgischen Maßnahmen. Diese starteten nach einem Trauma beim Fußballspiel im Alter von zwölf Jahren, das zum Bruch des Rippenknochens in Regio 36 mit Dislokation der Bruchenden führte. Ein Beckenkammtransplantat, eine Gelenksrekonstruktion und schließlich eine Kallusdistraktion sollten dem zunehmend asymmetrischen Wachstum des Gesichtes und den Funktionseinschränkungen entgegenwirken. Schließlich waren weitere Osteotomien, die mit Ende des Wachstums folgten, nicht zu vermeiden.
Meine Aufgabe als Kieferorthopädin war es, in interdisziplinärer Absprache die Zahnfehlstellungen zu korrigieren, die Zahnbögen auszuformen und für die Stabilisierung und Retention der jeweils erreichten Verzahnung zu sorgen. Schließlich wurde nach Knochenaugmentation im linken Unterkiefer und einer Implantatversorgung eine dringend notwendige prothetische Rehabilitation möglich.
Nun ist Stefan bereits 30 Jahre alt, und obwohl seine lange, aufwändige und kostenintensive Therapie noch immer nicht vollständig abgeschlossen ist, ist er ein positiv denkender, fröhlicher Mann geworden. Er ist mit den Ergebnissen seiner über viele Jahre verlaufenden Behandlung immer zufrieden gewesen. Ich weiß es heute aber besser als vor 30 Jahren. Patienten wie Stefan, die nach dem IOTN (index of orthodontic treatment need) den Grad 5 aufweisen, lassen sich weder zeitlich noch im therapeutischen Vorgehen in Therapiekonzepte einordnen, so wie das bei den Patienten mit geringeren Schweregraden möglich ist. Auch kann mit einer kieferorthopädischen Behandlung alleine kein Behandlungsziel erreicht werden. Es braucht dafür zusätzlich zu kieferorthopädisch-chirurgischen Maßnahmen auch konservierende und prothetische Betreuung und Therapie, bei der jeweils die besonderen Gegebenheiten berücksichtigt werden müssen, und schließlich professionelle Unterstützung bei der Mundhygiene, die wegen der Schwere der Behinderungen oft vernachlässigt wird. Es sind Patienten wie Stefan, mit einem IOTN von 5, an die zuerst gedacht werden sollte, wenn man über die derzeit zur Diskussion stehende Gratisbehandlung in der Kieferorthopädie spricht.

MR Dr. DORIS HABERLER
niedergelassene
Kieferorthopädin in Wien
office@dr-haberler.at


Bilderserie zum Fallbeispiel:


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