Fallbeispiele - Vitaminbedarf ist leicht erkennbar:

Da Biochemie genau wie Pharmakologie in unserem Studium immer noch ein Stiefkind ist, wundert es mich auch nicht, wenn ich in einem Gutachten zu lesen bekomme, dass eine Vitamin-B-Gabe keine therapeutische Wirkung hat.

Es wurde den wenigsten von uns erklärt, was es mit einer optimalen Nährstoffversorgung auf sich hat. Momentan gewinnt das Wissen um die Relevanz der B-Vitamine zumindest in der allgemeinen Medizin – vor allem im Zusammenhang mit der zunehmenden Burn-out-Problematik, CFS und Mitochondropathie – wieder zunehmend an Bedeutung. Doch gerade auch wir Zahnärzte, die wir die Patienten oft regelmäßiger als jeder andere Arzt sehen, sollten uns mit diesem Thema beschäftigen. Die Informationen, die wir für den Verdacht eines Vitaminbedarfs brauchen liegen in der Regel direkt vor unseren Augen.

Die Zunge brennt

Herr L. stellte sich bei mir mit unglücklichem Gesicht vor. In letzter Zeit laufe es für ihn gesundheitlich nun wirklich nicht gut und das, obwohl er in den letzten 67 Lebensjahren doch fast nie etwas hatte. Aber jetzt, erst der Diabetesbefund, dann hätten die Zähne nach und nach angefangen zu wackeln und seine Zahnärztin hätte trotz verbesserter Mundhygiene seinerseits und einer PA-Therapie, sogar mit Antibiotikagabe, einige Zähne ziehen müssen. Und nun dieses Brennen auf der Zunge, das könne er nicht aushalten. Seine Zahnärztin wisse sich allerdings auch keinen Rat mehr. Deshalb sei er jetzt hier. Seine Zahnärztin hatte schon eine Menge unternommen, galvanische Ströme ausgeschlossen, die eingebrachten Materialien auf Verträglichkeit prüfen lassen und trotzdem war keine Verbesserung erzielt worden.
Der Blick auf die Zunge sprach eine klare Sprache. Im vorderen Bereich waren rot aufgequollene Papillen, wie bei einer Erdbeerzunge, zu erkennen. Das klassische Zeichen eines Vitamin-B-Mangels in der Zungendiagnostik. Daneben ist auch die Furche in der Zungenmitte, die sogenannte Pankreasrille, zu erkennen. Bei Herrn L. kommen viele Faktoren zusammen, die zu seiner aktuellen Situation geführt haben. Ein Thema, das ich bei unserem Patienten therapiert habe, ist seine Mangelversorgung mit B-Vitaminen. Bekannt ist, dass bestimmte Lebensumstände wie Diabetes hier einen erhöhten Bedarf bestimmter B-Vitamine wie B1 und B6 erzeugen, um Neuropathien zu vermindern. Bei Herrn L. wird der Diabetes über Metformin, das die körpereigene Produktion von Zucker in der Leber bremst und die Zuckerverwertung in der Muskulatur verbessert, behandelt. Leider hat Metformin auch besonders auf das Nervenvitamin B12 Auswirkungen, da es die Aufnahme des Vitamin-B12-Intrinsic-Faktor-Komplexes im Dünndarm hemmt. Für seine verringerte Versorgung mit B-Vitaminen kann bei Herrn L. zusätzlich auch die Antibiotikatherapie (bei Behandlung seiner Parodontitis) eine Rolle gespielt haben. Zum einen beeinflusst diese Therapie immer auch die Darmflora, deren Gesundheit und Balance Voraussetzung für die Aufnahme und Verwertung von Vitaminen ist. Zum anderen können bestimmte Antibiotika Komplexe mit Calcium bilden, das Co-Faktor für die Vitamin-B12-Intrinsic-Komplex-Aufnahme im Dünndarm ist.
Ein zweiter Punkt kam bei Herrn L. hinzu: Viele unserer Zivilisationskrankheiten wie Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Übergewicht und Parodontitis stehen im Zusammenhang mit einer Dysbalance des Säure-Basenhaushaltes. Ein 14 Tage geführtes Esstagebuch bestätigte, dass sich unser Patient überwiegend im sauren pH-Wertbereich ernährte. Diese dauernde Säurelast kann eine der Ursachen für Zungenbrennen sein. Eine Ernährungslenkung bei gleichzeitiger Substitution eines Vitamin-B-Komplexes mit erhöhter Dosierung bei den Mangelzuständen im Vitamin-B12-, Nicotinamid- und Folsäurebereich behob das Brennen, gleichzeitig verbesserte sich auch der parodontale Zustand und der Diabetesmarker HBA1C stabilisierte sich im Zusammenhang mit der Parodontitistherapie.

Zauberei in der Zahnarztpraxis

Vor Kurzem war ich bei einem Kollegen in der Praxis, um ihn zum Kaffeetrinken abzuholen – eigentlich – , denn es sah noch nicht so aus, als wäre er bald fertig. Ich fragte, ob ich ihm etwas abnehmen könnte. Erst verneinte er, um gleich darauf zu sagen, dass er eine Patientin hätte, bei der er nicht weiterkäme und vielleicht hätte ich ja eine Idee. Es war eine junge Frau, etwa in meinem Alter. Auf meine Nachfrage, wo genau das Problem läge, öffnete sie nur den Mund, und das auch nur ein kleines Stück. Ich erkannte schon an ihren Augen, dass diese kleine Öffnungsbewegung bereits schmerzte. Sie erklärte, dass die Kieferblockade kurz nach einer von ihrem Gefühl her leichten Zahnentfernung aufgetreten sei. Eine lokale Entzündung im Operationsbereich konnte nicht festgestellt werden, und die Medikation mit Schmerzmedikamenten, kombiniert mit Wärme und Spatelübungen hatten bisher keine echten Verbesserungen gebracht. Es belastete sie nervlich, dass es nicht voranging. Allerdings wollte sie sich davon nicht zu sehr runterziehen lassen, um nicht wieder in eine Depression abzugleiten, da sie mit Antidepressiva momentan gut stabilisiert war.
Zwei Überlegungen liefen nach dieser Erzählung gleichzeitig in meinem Kopf ab. Zum einen das Wissen, dass Depressionen als Mangelsymptome für Vitamin B12 und Folsäure beschrieben werden. Auch andere B-Vitamine haben in diesem Zusammenhang Einfluss, da sie, wie z.B. Vitamin B1, von Bedeutung für den Metabolismus von Neutrotransmittern wie Serotonin verantwortlich sind. Zum anderen wende ich bei Kiefergelenkspatienten bereits seit ein paar Jahren sehr erfolgreich die Untersuchungsergebnisse von Prof. Winzen/Frankfurt an. Er hatte mittels einer computergestützten Gelenkbahnvermessung zeigen können, dass alleine durch die Gabe eines Vitamin-B-Komplexes – kombiniert mit Mangan für die Bandstabilisierung – eine gleichmäßigere Öffnungsbewegung, eine vergrößerte Mundöffnung und eine sofortige Schmerzreduktion erzielt werden konnten. Dies zeigte sich als Sekundenphänomen, einfach bei sublingualer Exposition, wie wir es alle vom Nitrolingualspray kennen.
Im Zusammenhang mit Triggerpunkten, gerade im Bereich der Kaumuskulatur, wurde bereits vor vielen Jahren die positive Wirkung von B-Vitaminen auf die Muskelfunktion von Travell/Simons beschrieben. Als Tagesdosis wurde eine Kombination aus:
Vitamin B1 (Thiamin) 10 mg
Vitamin B3 (Niacitol) 1.500–3.000 mg
Vitamin B6 (Pyridoxin) 10–100 mg
Vitamin B9 (Bolsäure) 1–5 mg
Vitamin B12 (Methylcobalamin) 100–1.000 mg, mit Vitamin C empfohlen.

Auch ein Test der Substanzen über Applied Kinesiologie/funktionelle Myodiagnostik bestätigte die positiven Auswirkungen der Substanzen auf das Kiefergelenk bzw. die Kaumuskulatur. Zudem unterstützt dabei auch Leinöl, das mit seinem hohen Omega-3-Anteil zur Entzündungsreduktion und über den Einfluss auf den Prostaglandinstoffwechsel auch zur Schmerzverminderung beiträgt.
Da ein Versuch ja nicht schaden konnte, bekam die Patientin die Substanzen in den Mund und sollte sie dort einige Zeit belassen, zusätzlich behandelten wir sie mittels Magnetfeldtherapie mit einer lokal auf das Kiefergelenk ausgerichteten Applikation. Schon während der 16 Minuten, die diese Anwendung dauerte, öffnete die Patientin immer wieder den Mund, erst vorsichtig und zaghaft, dann staunend immer weiter, bis sie das Gefühl hatte, dass fast wieder eine normale Öffnung möglich sei. Schmerzen spürte sie kaum noch. „Zauberei" meinte sie nur, als mein Kollege zu uns stieß, und zeigte ihm begeistert unseren Erfolg. Selbstverständlich wurde die Patientin danach einige Zeit mittels orthomolekularer Substitution, Magnetfeldtherapie und Physiotherapie weiter behandelt, um die Kiefergelenkssituation wieder zu normalisieren. Positiver Begleiteffekt war, dass sie in Absprache mit ihrem behandelnden Arzt auch die Menge der Antidepressiva reduzieren konnte.

Große Wirkung ohne Nebenwirkungen

Immer wieder beeindruckt mich in meiner täglichen Arbeit, was diese einfachen orthomolekularen Mittel für eine große Wirkung im System haben, und das ohne Nebenwirkungen! Alles, was man für diese unterstützende Therapieform braucht, sind ein offenes Auge und Ohr, und Grundwissen über die biochemischen orthomolekularen Zusammenhänge.
Unsere Patienten erzählen und zeigen uns alles, was wir als Hinweise dafür benötigen.
Und wir dürfen unsere vielleicht noch aus Unizeiten stammende Einstellung zu Pharmakologie und Biochemie noch einmal überdenken. Ich empfehle Ihnen: Beschäftigen Sie sich damit, lesen Sie oder besuchen Sie Fortbildungen zu diesem Thema. Sie werden erkennen, wie spannend all diese Zusammenhänge sind und wie Sie ganz einfach für Ihre Patienten kleine Alltagswunder entstehen lassen können.

Dr. EVA MEIERHÖFER
FA für Oralchirurgie
Klagenfurt
praxis@meierhoefer.at

Schon die Zunge verrät den Vitamin-B-Bedarf