Fallbeispiel - Kieferorthopädie in der Praxis

„In the late 1950s and the early 1960s removeable appliances had a bad name in the orthodontic specialty also because the detailed tooth-positioning results expected by Americans, where not apparent when looking at the cases of our European colleagues. To many orthodontists, this was the way to go, when you could not afford to go first class, a sort of socioeconomic „cop-out“. Why take second best?“  schreibt Thomas Graber im Vorwort seines Lehrbuches: „Removeable Orthodontic Appliances“.

Mit der Einführung der Gratiszahnspange scheint nun auch in Österreich die lange Tradition der herausnehmbaren Geräte als soziale Lösung in der Kieferorthopädie zu enden. Nach dem neuen Kieferothopädievertrag sind abnehmbare Apparate nur im Milch- und frühen Wechselgebiss und nur für jene Fehlstellungen gratis, die, wenn sie nicht frühzeitig korrigiert werden, die weitere Gebissentwicklung nachweislich stören. Alle anderen jugendlichen Patienten haben, sofern die Fehlstellung nach dem IOTN den Schweregrad 4 oder 5 aufweist, Anspruch auf die hochwertige Therapie mit Multibracket-Apparaturen. Diese sind in der Regel sach- und fachgerecht erst wesentlich später, nach dem Zahnwechsel einzugliedern.
Auch wenn dieser Vertrag den Anforderungen einer zeitgemäßen Kieferorthopädie entspricht, verbleibt die Frage, wie in der täglichen Praxis bei Kindern mit jenen Zahnfehlstellungen vorzugehen ist, für die kein Anspruch auf eine kostenfreie Frühbehandlung besteht. Aus medizinischer Sicht sind auch bei solchen Patienten weitere regelmäßige Kontrollen beim Spezialisten nötig, weil nicht mit Sicherheit vorherzusehen ist, ob eine bei der Erstkonsultation von der Norm abweichende Gebisssituation sich spontan korrigieren wird oder sich verschlechtert. Weiters ist in diesen Fällen eine besonders umfassende Beratung und Aufklärung der Eltern erforderlich. Denn: Die Entscheidung, ob eine Hauptbehandlung mit fixen Apparaturen gratis ist oder nicht, lässt keinen Spielraum zu. Patienten, deren Eltern hohe Behandlungskosten nicht übernehmen können und deren Zahnstellung schließlich schlecht, aber für die Gratisspange gerade nicht ausreichend schlecht ist, werden uns sonst mit der Frage konfrontieren, warum es verabsäumt wurde, so wie früher üblich, mit den kostengünstigeren losen Kunststoffspangen zeitgerecht eine ausreichende Verbesserung anzustreben.

Fallbeispiel

Die besorgte Mutter kam mit ihrem achtjährigen Sohn zur Beratung in unsere Ordination, weil der Zahnarzt einen frontoffenen Biss und einen Sprachfehler festgestellt hatte und wollte wissen, ob deshalb eine Behandlung mit einer Zahnspange erforderlich sei. Weil sich in Fällen wie diesem der offene Biss im Zuge der Gebissentwicklung meist spontan schließt, habe ich primär lediglich zu einer logopädischen Behandlung und zu weiteren Kontrollen in meiner Ordination geraten. Die entsprechenden Termine wurden von der Mutter auch genau eingehalten. Denn während sich – wie ich vermutet hatte – der offene Biss in der Front zur Norm hin verbesserte, beunruhigte die Mutter die Fehlstellung der gerade durchbrechenden oberen Zweier. „Dieses klinische Bild entsteht, wenn die Wurzeln der seitlichen Schneidezähne von den noch hochliegenden Eckzahnkronen nach mesial gedrückt werden. Das Phänomen ist häufig zu beobachten und wird gerne „ugly ducking stage“ genannt,“ erklärte ich der Mutter. „Die Achsenneigung der Zähne kann sich spontan verbessern, sobald nach Durchbruch der Eckzahnkronen Platz dafür vorhanden ist. Trotzdem,“ so klärte ich die Mutter meines mittlerweile 10,5 Jahre alten Patienten auf, „wird Ihr Sohn eine Zahnspange benötigen. Mit abnehmbaren Apparaturen lassen sich möglicherweise nur Kompromisse erreichen. Ein gutes Ergebnis erfordert am Ende des Zahnwechsels eine Multibracketbehandlung.“
„Ich bin froh, dass meinem Sohn eine Regulierung bis zuletzt erspart geblieben ist“, meinte die Mutter und entschied sich für die fixe Zahnspange, die schließlich im Alter von 13 Jahren eingesetzt wurde und die verbliebene Fehlstellung korrigierte. Auch ich war zufrieden, weil mir die Frage erspart geblieben ist, wie ich diesen Fall, der die Kriterien für eine Gratisbehandlung jedesmal knapp verfehlt hatte, behandeln sollte, wenn sich die Eltern eine teure Multibracketbehandlung nicht leisten hätten können.

MR Dr. DORIS HABERLER
niedergelassene
Kieferorthopädin in Wien
office@dr-haberler.at




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