Fallbeispiel - Kieferorthopädie in der Praxis

Seit eineinhalb Jahren gibt es die „Gratiszahnspange“: Hat der neue KO-Vertrag die Erwartungen erfüllt, die man in ihn gesetzt hat?

In regelmäßig erscheinenden Medienberichten wird der Vertrag vor allem von Gesundheitsökonomen als großer Erfolg gefeiert. Ein Ziel, dass Kieferorthopäden nun Kindern und Jugendlichen auch aus einkommensschwachen Familien evidenzbasierte, zeitgemäße Behandlungsmethoden als Sachleistung anbieten können, wurde zwar erreicht. Aber damit die eigens vom Bund zur Verfügung gestellten finanziellen Ressourcen auch ausreichen und vernünftig eingesetzt werden, ermöglicht der Vertrag konkret nur dann eine kostenfreie kieferorthopädische Behandlung, wenn bestimmte, genau definierte schwere Fehlstellungen vorliegen, das Kind unter 10 Jahre bzw. zwischen 12 und 18 Jahre alt ist, die Frühbehandlung mit abnehmbaren Geräten und die Hauptbehandlung mit Brackets erfolgt. Im Gegenzug wurden sogenannte „ineffiziente und unökonomische Leistungen“ wie z.B. Maßnahmen von langer Dauer oder außerhalb der Altersgrenzen gestrichen und eine Kostenübernahme für die „Gratiszahnspange“ an die exakte Befolgung der streng standardisierten Richtlinien geknüpft.
Als Kieferorthopädin sehe ich dieses Vorgehen nach einem strengen Schema aber auch aus einer anderen Perspektive. Selbstverständlich sind auch für uns Praktiker Kontrollmechanismen zur Überprüfbarkeit von Leistung notwendig. Ein Zuviel an standardisierten Vorgaben führt aber dazu, dass die Freiheit der Therapieentscheidungen auf der Grundlage von Expertenwissen und Erfahrung eingeschränkt wird und Entscheidungen nicht aufgrund der individuellen Situation des Patienten getroffen werden, sondern sich den Vorgaben des Vertrags unterordnen. Unsere Patienten sind keine Kunden, die kommen, um nachzufragen, ob und wann sie Anspruch auf eine Gratiszahnspange haben. Es kommen Kinder mit schweren Fehlentwicklungen bzw. Störungen im Kiefer-Gesichts-Bereich in Begleitung ihrer Eltern. Sie benötigen keine schnellen Therapieentscheidungen, sondern primär individuelle Beratung und kompetente Betreuung meist über die gesamte Zeitspanne der Gebissentwicklung, ein kritisches Hinterfragen von Maßnahmen und ein sorgfältiges Abwägen der Möglichkeiten. Richtiger wäre, die Therapie an die besonderen Anforderungen des Patienten anzupassen.
Als Fallbeispiel mocht ich einen Jungen vorstellen. Aufgrund der Diagnose – ein extremer Tiefbiss/Deckbiss, eine Unterkieferrücklage und eine Aplasie der Zähne 35 und 45 – waren für eine erfolgreiche Therapie neben einer kieferorthopädischen Behandlung kieferchirurgische und prothetische Maßnahmen nach Wachstumsabschluss erforderlich.
Bereits im Alter von sechs Jahren war die Tendenz zum Tiefbiss zu erkennen. Im Alter von 7,5 Jahren zeigen die klinischen intraoralen Fotos bereits einen Tiefbiss/Deckbiss mit traumatischem Einbiss im antagonistischen Parodont. Am zur gleichen Zeit angefertigten Panoramaröntgenbild waren die Aplasie von Zahn 35 und 45 und zusätzlich eine unterminierende Resorption bei Zahn 55 zu erkennen.
Wir starteten im Alter von 7,8 Jahren mit eine Aktivatorbehandlung. Im Sinne von Arne Björg sollte primär die Stellung der Frontzähne verbessert, eine starke anteriore Rotation der Mandibula verhindert und eine Bisshebung erreicht werden. Das Gerät sollte bis zum Erreichen korrekter Frontzahnkontakte 14 Stunden und anschließend zur Retention nachts getragen werden.
Mit 8,7 Jahren, noch während dieser Aktivatorbehandlung, wurde mein Patient am Schulhof gestoßen und stürzte unglücklich. Dabei wurde der Zahn 11 frakturiert, stark gelockert und so weit nach palatinal disloziert, dass ein Zubeißen nicht möglich war. Ein Zahntrauma während einer aktiven kieferorthopädischen Therapie kommt öfter vor. Es ist deshalb naheliegend, dass der Kieferorthopäde auch eine entsprechende Erstversorgung übernehmen sollte. Er hat die notwendige Ausbildung, die Ordination verfügt über die für die Versorgung nötigen Materialien, er kennt die Gebisssituation vor dem Unfall und übernimmt die Betreuung während der weiteren Gebissentwicklung. Statt der funktionskieferorthopädischen Behandlung musste ich nun zunächst den gelockerten Zahn in der korrekten Position stabilisieren, und um traumatische Okklusionskontakte zu verhindern, klebte ich anfangs Aufbisse. Die Krone wurde vom Zahnarzt mit einem Kunststoffaufbau versorgt.
Eine neuerliche aktive kieferorthopädische Therapie starteten wir mit 11,5 Jahren. Auch wenn bei Aplasie der unteren Fünfer die Lücken orthodontisch geschlossen werden können, entschieden wir uns in dieser Situation für ein Offenhalten. Ein Lückenschluss wäre aufwändig gewesen und die oberen Siebener hätten schließlich keinen Antagonistenkontakt, weil auch die Weisheitszähne nicht angelegt waren. Aber gerade bei einem brachiofazialen Gesichtswachstum benötigt der Patient gegen die Tiefbissneigung eine gute vertikale Abstützung im Molarenbereich.
Mit 13,4 Jahren entfernte ich die Brackets, die Siebener waren noch nicht durchgebrochen. Im anterioren Zahnbogenbereich war das Ergebnis zu diesem Zeitpunkt ästhetisch und funktionell zufriedenstellend, ein Behandlungsende war noch nicht erreicht. Denn für eine korrekte Okklusion im Seitenzahnbereich sind die Entfernung der Milchfünfer, noch einmal kieferorthopädische und im Anschluss prothetische Maßnahmen erforderlich. Es werden einige Jahre vergehen bis das Ende dieser kieferorthopädischen Behandlung wirklich erreicht ist.

MR Dr. DORIS HABERLER
niedergelassene
Kieferorthopädin in Wien
office@dr-haberler.at



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