Die ersten Erlebnisse - Gratiszahnspangen praxisgerecht und ganzheitlich gesehen

Jetzt gibt es die Gratiszahnspange seit sechs Monaten und dementsprechend erste Erkenntnisse, was uns da wirklich beschert wurde. Das Interesse an einer für den Patienten kostenlosen Zahnspange ist natürlich groß, bei Beratungen gibt es tatsächlich den erwarteten Ansturm.

Die erste Herausforderung an unser Ordinationsteam sind dabei schon einmal die Namen, die sie ins Vormerkbuch eintragen sollen, die meisten künftigen Patienten haben nämlich Migrationshintergrund. Etliche erscheinen dann auch gar nicht zum Beratungsgespräch, weil sie eigentlich am nächsten Tag vorbeikommen wollten, um sich die Spange abzuholen und dann zwei Monate zur Verwandtschaft in die alte Heimat zu fahren.
Dieses Problem hat sich mit Schulanfang gebessert, jetzt leiden wir eher unter den Mehrfachberatungen. Da das E-Card-System uns noch nicht verlässlich anzeigt, ob schon eine kieferorthopädische Beratung erfolgt ist, machen sich die Patienten Termine bei einigen Kollegen aus, um dann zu behaupten, es hätte schon jemand festgestellt, dass sie Anspruch auf eine Gratiszahnspange hätten. Meist sind sie ziemlich ungehalten, wenn mich das nicht beeindruckt, weil ich die IOTN-Klassifizierung mittlerweile recht gut beherrsche.
Beim ersten Durcharbeiten des neuen Index war ich ja der Ansicht, dass es kaum Fehlbildungen dieser Ausprägung geben wird. Die Anzahl der Fälle mit Fehlbildungen der Stufe 4 und 5 hat uns ziemlich überrascht, weil jetzt natürlich eine negative Auswahl zur Beratung kommt. Diese Jugendlichen weisen tatsächlich so massive Zahn- und Kieferfehlstellungen auf, wie wir sie in den 30 Jahren vorher kaum gesehen haben! Sie kommen aus Ländern, wo man andere Sorgen hatte, oder aus Familien, wo einer Fehlstellung keine Bedeutung beigemessen wurde. Viele Jugendliche wollen allein zur Beratung kommen, die Eltern sind oft ungehalten, wenn sie mitkommen sollen.
Einheimische Kinder – ebenso wie Kinder, deren Familien schon länger in Österreich sind – haben meist schon eine Regulierung bekommen. Diese wurde aber manchmal nicht genügend getragen oder hat nicht gut funktioniert, sodass sie jetzt trotz Vorbehandlung noch Anspruch auf eine Gratiszahnspange haben. Massiver Engstand, Tiefbiss oder Feineinstellung bei Aplasien sind relativ häufig. Klasse-3 und offener Biss kommen vor, wenn sie sich im Wachstumsschub plötzlich verstärkt haben. Die stärksten skelettalen Fehlentwicklungen wurden aber üblicherweise mit einem Funktionsgerät behoben. Dadurch kann eine fixe Zahnspange jetzt den Rest relativ schnell und effektiv korrigieren.
Die bisher unbehandelten Kinder hingegen stellen eine viel größere Herausforderung dar. Die skelettalen Diskrepanzen erfordern häufig eine chirurgische Intervention. Abgesehen von den Kosten für die Krankenversicherung müssen die Patienten die chirurgische Planung selbst bezahlen (von Euro 1000,– aufwärts). Das Risiko einer Nervenverletzung ist gering (etwa 1%), aber Narben bleiben natürlich und die Osteosyntheseplatten belassen die Kollegen heute im Kiefer. Extraktionen sind ebenfalls häufiger, das schockiert die neue Kundschaft allerdings nicht, meist fehlen ja ohnehin schon bleibende Zähne oder ich muss sie bei der ersten Beratung erst einmal zum Sanieren schicken. Die Versorgung von Mehrfachaplasien ist in der Praxis ebenfalls ein Problem – die Kassen bezahlen hier nur bei Behandlung an der Zahnklinik.
Das Einhalten von Terminen ist offensichtlich ungewohnt, erst gar eine bestimmte Uhrzeit!
Lose Bracketts werden ignoriert, wird schon so auch gehen …
Die Zahnpflege mit der fixen Spange dürfte generell gut sein, über die Mitarbeit bei Gummizügen lässt sich wegen der kurzen Zeit noch keine Aussage treffen.
Die fixe Hauptbehandlung ab 12 Jahren erfolgt zumindest am Beginn mit superelastischen Drähten, negative Auswirkungen auf Körperhaltung und Craniosakralsystem sind daher nicht zu befürchten.
Ein Problem stellt allerdings eine langdauernde Behandlung mit Metallbrackets dar. Brackets und Drähte enthalten Nickel und Titan. Beide Metalle können Auswirkungen auf das Immunsystem haben. Ob und wie stark diese sind, ist abhängig von einer genetischen Disposition, aber auch von der Menge des Metalls und der Dauer der Einwirkung. Dauer bezieht sich sowohl auf die Stundenanzahl täglich als auch auf die Gesamtdauer der Regulierung. Der Tarif für die Gratiszahnspange wurde so gestaffelt, dass die Spange nur kostendeckend ist, wenn die Nehandung mit der Zahnspange mehr als zwei Jahre dauert. Rein kieferorthopädisch ist das auch sinnvoll, weil wir nicht so sicher sind, wie ein Haltegerät getragen wird. Entscheidet man sich für einen Kleberetainer, ist die Gefahr für das Immunsystem umso größer – möglich sind Sensibilisierungen ebenso wie Immundepression.
Eine echte Benachteiligung der Patienten stellt die neue Bewilligungspraxis bei den abnehmbaren Spangen dar. Entgegen den Beteuerungen des Hauptverbandes, dass sich bei den herausnehmbaren Spangen nichts ändert, werden die Anträge abgelehnt und den Patienten entweder erklärt, dass diese Zahnspange unnötig sei, oder dem Kollegen wird eine interzeptive Behandlung aufgezwungen.
Die interzeptive Behandlung wäre eigentlich – wie der Name sagt – die kurzfristige Korrektur eines sich selbst verstärkenden Fehlers, in der Hoffnung, dass anschließend das Wachstum harmonisch weitergeht. In seltenen Fällen, etwa beim Kreuzbiss eines Frontzahnes, funktioniert das auch planmäßig. In den meisten anderen Fällen sind kurzfristige Interventionen nicht zielführend und oft sogar schädlich.
Das Überstellen eines seitlichen Kreuzbisses mit rascher Gaumennahterweiterung bringt Narben in der Gaumennaht und Blockaden im Craniosakralsystem mit sich, besonders im Falle einer zusätzlichen Verankerung mit einem temporären Implantat. Kopfschmerzen, Sehstörungen und Lernschwäche sind häufig. Bewegungskoordination und Lateralitätsentwicklung sind erschwert. Die Rezidivquote ist hoch. Ein funktionskieferorthopädisches Gerät bringt (allerdings bei nachhaltiger Mitarbeit) ein gutes und stabiles Ergebnis und sogar eine positive Entwicklungsförderung, die Therapie dauert aber etwa drei Jahre.
Noch schlimmer sieht die Bilanz bei skelettal kleinem Unterkiefer aus: Die Eltern haben die Wahl zwischen Funktionskieferorthopädie ab etwa acht Jahren (drei bis vier Jahre lang) oder späterer chirurgischer Korrektur. In diesem Fall gibt es sogar Studien der Universität Detroit (Jeff Berger), dass die Funktionskieferorthopädie stabilere Langzeitergebnisse liefert.
Erstaunlicherweise nehmen die Patienten diese Schlechterstellung relativ gelassen hin. Ein Teil akzeptiert, dass sie sich die optimale Spange halt nicht leisten können, anderen ist die Gesundheit ihrer Kinder eine privat bezahlte Spange wert.
Meine Empfehlung derzeit: Interzeptive Spange, wenn tatsächlich mit vernünftigen Methoden in etwa einem Jahr die Behebung einer massiven Störung möglich erscheint.
Privatleistung, wenn klar ist, dass eine Kieferentwicklung mindestens zwei Jahre dauert.
Ob die Kassen einen Zuschuss leisten, ist unklar, aber eher unwahrscheinlich.
Natürlich muss man den Eltern sagen, dass sie wahrscheinlich später eine fixe Zahnspange gratis bekommen können, dass diese aber andere Wirkungsweisen hat und nur mehr wenig skelettale Effekte.
Privatleistungen sind auch die ehemaligen Heilbehelfe wie Kinnkäppchen oder Mundvorhofplatten, laut Kassenmeinung obsolet, in Wahrheit aber sinnvolle Beeinflussung des Wachstums.
Durch den Versuch, alles zu reglementieren, gibt es keine Gummiparagraphen (Position j..) und dementsprechend auch seltsame Härtefälle: Ein Knabe mit zehn Jahren hat eine Frontzahnstufe von 11mm – er ist zu alt für eine interzeptive Spange und (obwohl er alle bleibenden Zähne hat) zu jung für eine fixe. Hoffentlich überleben die vorstehenden Schneidezähne 11/2 Jahre ohne Fraktur …
Schöne neue Zeit? Eigentlich haben die abnehmbaren Spangen ja mehr Erfahrung, einen höheren Zeitaufwand und erhebliche Technikkosten erfordert. Wir haben sie gerne gemacht, weil sie sanft und ganzheitlich zur Entwicklung unserer Kinder beigetragen haben (auch Nebenhöhlen, Rachenraum, Wirbelsäule …). Jetzt ändert sich das System: Die „Kassenspange“ von früher wird das Luxusgerät, gratis sind Metallbrackets. Leider braucht es einige Jahre, bis Langzeitergebnisse die Sinnhaftigkeit dieser Errungenschaft zeigen.

MR Dr.
EVA-MARIA HÖLLER
Zahnärztin und Kieferorthopädin in Wien
Schwerpunkt: Komplementärverfahren
Gerichtlich beeidete Sachverständige mit Zusatzbezeichnungen Kieferorthopädie und
Komplementärverfahren
ordi.hoeller@aon.at

 

 

Überstellen eines frontalen Kreuzbisses mit einer interzeptiven Behandlung (Kybernetor).