Autorengespräch: Ein gesunder Kiefer – ein gesunder Körper

Die Folgen von Kieferschmerzen, Zähneknirschen und CMD sind weitreichend. Wir sprachen mit Kieferspezialistin Stefanie Kapp über ihre Erfahrungen.

Wie kommt es, dass Sie sich als Physiotherapeutin mit dem Kiefer beschäftigen?

KAPP: Angefangen hat es mit meinem Umzug nach Stuttgart. Mein Wunsch war es, mich weiterzuentwickeln und zu spezialisieren, und daher habe ich mich für eine Praxis beworben, die sich nur auf die Behandlung von Kiefer-, Kopf- und Nackenbeschwerden ausrichtete. Parallel absolvierte ich drei Jahre lange ein Fortbildung zur Crafta-Therapeutin.
In dieser Zeit wurde mir bewusst, dass die Anzahl der Patienten, die uns mit diesen Beschwerden aufsuchten, stark zunahm, jedoch wenig Therapeuten vorhanden sind. Daher entschloss ich mich, auf diesem Gebiet selbständig zu machen und mein Wissen zu vertiefen.

Haben die Beschwerden im Kiefer-Kopf-Nackenbereich zugenommen?

KAPP: Ja und nein. In den letzten Jahren sind die Beschwerden von CMD mehr in den Fokus der Wissenschaft und der Zahnärzte/Kieferorthopäden gekommen. Viele Zahnärzte haben sich weitergebildet, damit werden aber auch parallel mehr Diagnosen gestellt. Auf der anderen Seite hat die Anzahl der Patienten auch aufgrund unserer Lebensweise zugenommen. Die meisten leiden unter Stress, Ängsten und Leistungsdruck und legen damit den Grundstein zur Entwicklung von chronischen Schmerzen wie CMD.

Wie gut helfen nächtliche Knirscherschienen gegen Verspannungen?

KAPP: Eine Knirscherschiene ist als temporäre Unterstützung geeignet, um den Abrieb der Zähne aufzuhalten und die Verspannungen zu reduzieren. Jedoch ist damit die Ursache des Knirschens nicht behoben – die liegt häufig im Schlaf. Studien haben gezeigt, dass nach einer gewissen Zeit das Knirschverhalten durch das Tragen einer Schiene verstärkt wird. Daher ist es empfehlenswert, die Ursache aufzudecken.

Was alles versteht man unter CMD und was sind die Ursachen?

KAPP: CMD bedeutet Craniomandibuläre Dysfunktion, eine Funktionsstörung zwischen Kiefer und Schädel. Diese kann, abe muss nicht zwangsläufig schmerzhaft sein. Ein Ungleichgewicht der Gewebestrukturen (muskulär, fazial, knöchern) liegt vor. CMD hat vier Hauptsymptome. Einmal sind dies Schmerzen im Kiefer-, Kopf- und Nackenbereich. Zum zweiten sind es Bewegungseinschränkungen im Kiefergelenk, wie eine Kieferklemme oder Mundöffnungsprobleme. Zum Dritten sind es Missempfindungen, die sich durch Taubheit, Kribbeln im Gesicht, in der Zunge äußern können und es sind Gelenkgeräusche, wie zum Beispiel ein Kieferknacken oder Reiben. Die Ursachen sind recht komplex, so wie auch die Symptome. Es ist eine Mischung aus körperlichen, seelischen und sozialen Faktoren. Körperlich kann eine Ursache in einer Fehlstellung der Zähne liegen. Jedesmal, wenn wir aufbeißen, wird das Kiefergelenk in seiner Position beeinflusst. Wenn hier Bissfehlstellungen vorliegen, dann gibt es eine vermehrte Kompression im Kiefergelenk. Zum anderen sind die Ursachen auch in vergangenen Verletzungen des Schädel-Kiefer-Bereichs zu suchen, auch hier können Dysbalancen muskulär und fazial entstehen. Eine andere Ursache ist die Psyche. Stresshormone werden vermehrt gebildet und sorgen für muskuläre Anspannung im Kiefersystem, viele Betroffene verarbeiten ihren Sress durch Knirschen und Pressen. Des Weiteren sind Frauen häufiger von CMD betroffen, da der Hormonspiegel eine Rolle spielt. Fällt der Östrogenspiegel ab oder schwankt stark, dann werden Schmerzimpulse schneller weitergeleitet.

Ist die Diagnose einfach?

KAPP: Wichtig ist bei CMD, alle Ursachen zu betrachten und nicht einseitig zu untersuchen. Die Abklärung sollte durch Physiotherapeut, Zahnarzt und Kieferorthopäde in Zusammenarbeit geschehen.

Ist eine Therapie möglich?

KAPP: Definitiv ist eine Therapie möglich. Wichtig ist hier die Aufklärung des Patienten. Ihm aufzuzeigen, wie ein chronischer Schmerzkreislauf durch das Gehirn gebildet wird und welche Faktoren zur Auflösung dienen. So kann der Patient selbst schon wichtige Therapie leisten ohne passive Maßnahmen von Therapeuten und Ärzten. Ebenso ist es wichtig, dass die Mobilisation und Stabilisation des Kiefersystems forciert wird und der Patient ein Übungsprogramm zur Beweglichkeitsverbesserung, Entspannung und Stabilisation erhält. Falls eine Fehlstellung in der Bisslage vorliegt, ist natürlich der Zahnarzt zur Schienentherapie unabdingbar.

Können Sie unseren Lesern, den Zahnärzten und zahnärztlichen Assistentinnen und Assistenten, die ja auch nicht gerade eine gesunde Arbeitshaltung einnehmen, spezielle Übungen empfehlen?

KAPP: Für einseitige Haltungen und dadurch resultierende Verspannungen empfehle ich, Atemübungen während des Tages einzubinden. Bereits vertiefte und verlangsamte Atemtechniken können hier Abhilfe schaffen. Zum Beispiel eine 4-7-8-oder eine 2:8 Atemübung sind hilfreich. Des Weiteren sollten die gleichen Bewegungsmuster bewusst unterbrochen werden, durch häufige Positionsveränderungen bzw. durch leichte Mobilisationen der HWS und der Schultergelenke. Zum Beispiel die Schultern nach unten und oben ziehen, kreisen oder nach hinten zur Wirbelsäule ziehen. Die HWS kann ebenso mobilisiert werden durch die Drehung nach rechts/links, durch einen Kreis oder das Zeichnen einer imaginären 8 mit der Nasenspitze.

Herzlichen Dank für das Interview!

Stefanie Kapp, Kieferspezialistin