CMD, Myozentrik und Therapien - Knirschen in Zeiten der Pandemie

DDr. Elisabeth Pittschieler studierte an der Ludwig-Maximilians-Universität München Zahnmedizin. Danach absolvierte sie u.a. die Ausbildung für neuromuskuläre Zahnheilkunde (Myozentrik) am ITMR (Institut für Temporomandibuläre Regulationstherapie). 2012 legte sie die Prüfung zur „Fachzahnärztin für Kieferorthopädie” in Frankfurt ab, 2018 wurde sie am ICCMO (International College of Craniomandibular Orthopaedics) zertifiziert. Dr. Caroline
Kunz ist Ärztin und Psychotherapeutin. Sie arbeitete viele Jahre im psychiatrischen Bereich.

ZMT sprach mit den beiden Ärztinnen über Knirschen, CMD und deren Therapie.

Gibt es heute noch die deutliche Trennung zwischen klassischer Gnathologie und Myozentrik?

PITTSCHIELER: Meist haben sich diese zwei Systeme – gelenksbezogen bzw. auf die muskuläre Balance fokussiert – vermischt. Generell gibt es in der CMD-Behandlung sehr viele Konzepte, aber wenig klinische Daten.

Was versteht man unter „Myozentrik“ genau?

PITTSCHIELER: Myozentrik ist die Kieferrelation, die bei aufrechter Körperhaltung mit entspannter Muskulatur und deprogrammierter Sensomotorik spontan und verifizierbar eingenommen wird. Aus Sicht der Myozentrik ist das Problem nicht der „falsche Biss“, sondern eine verspannte Ruheschwebelage, um in einen „falschen“ Biss zu kommen. Die Kompensation geht mit chronischer Muskelverspannung einher und kann zu CMD führen.

Wie stellt sich die CMD-Problematik aus Ihrer Sicht dar?

PITTSCHIELER: Bei CMD können diverse Muskelgruppen (inkl. Rücken) betroffen sein, und viele Symptome können auftreten: Kieferschmerzen, Knirschen, Ohrenschmerzen, Kopfschmerzen, eingeschränkte Mundöffnung, Verspannungen und Schmerzen in Nacken, den Schultern oder im Rücken usw. Zu denken ist auch an die Bedeutung einer Silent Inflammation, Sinusitis, des Darms oder der Behinderung des Lymphabflusses für eine CMD. Es handelt sich hier um myofasziale Schmerzsyndrome mit Triggerpunkten. Das Ziel der Behandlung von myofaszialen Schmerzsyndromen ist die Schmerzreduktion und Wiederherstellung der Muskelfunktion. Dazu braucht es ein interdisziplinäres Team.

Hat durch die Pandemie Bruxismus zugenommen?

PITTSCHIELER: Nach meiner Erfahrung, aber auch der von Kolleginnen und Kollegen, haben seit ungefähr einem Jahr die entsprechenden Anrufe deutlich zugenommen – verdoppelt bis vervierfacht. Nach dem biopsychosozialen Modell ist das auch naheliegend. Die Menschen betreiben weniger Sport, das Sozialleben ist eingeschränkt, der Arbeitsplatz unsicher, es kommt immer wieder zu plötzlichen Änderungen im Schulbereich etc. Das Kausystem ist ein stressverarbeitendes Organ, und durch chronischen Stress kann es zu einer Überlastung kommen.

KUNZ: Derzeit schicken mir viele Kollegen Patienten wegen Knirschens, darunter sind auch viele junge Erwachsene, abgeschirmt vom „normalen Leben“. Wenn Menschen z.B. stark gesellschaftlich orientiert sind, bedeuten die mit der Pandemie einhergehenden Einschränkungen Stress. Knirschen kann dann als isoliertes Symptom auftreten, aber auch im Rahmen der Entwicklung von Ängsten, von Depressionen und Unruhe.

Wie sieht Ihr Behandlungskonzept aus?

PITTSCHIELER:
Ich arbeite seit 2009 eng mit der Physiotherapeutin und Osteopathin Astrid Medlitsch zusammen. Dreidimensionales Denken, ausführliche Anamnese und Haptik (also „gute alte“ klinische Untersuchung) spielen mit allen schulmedizinischen Befunden für uns eine große Rolle. Die Patienten füllen einen Schmerz- und Zufriedenheitsfragebogen aus, und es wird eine ausführliche Differenzialdiagnose durchgeführt. Wichtig ist, die Patienten in Selbstbestimmtheit zu bringen und individuelle Aspekte zu berücksichtigen. Bei leichter Ausprägung der CMD empfehlen wir zunächst Hausmittel und Selbsthilfe. Im Fall einer CMD nach emotionalen Traumata, Unfällen oder Notoperationen überweise ich die Patienten zu anderen Ärzten wie etwa Psychotherapeuten. Fällt der Test mit einem Holzspatel zur Entkopplung des Bisses positiv aus, kommt eine Testschiene (z.B. Freebite) zum Einsatz. Weiters Osteopathie und/oder Neuraltherapie zur Muskelentspannung. Häufig ist dann auch eine Verbesserung der Körperhaltung zu beobachten. In einer Diplomarbeit der SFU wurde unser Therapiekonzept (Osteopathie und Myozentrikschiene) evaluiert. In die Analyse gingen letztlich 52 Patienten ein. Es zeigte sich eine signifikante Verringerung der Zahl der Schmerztage und des Schmerzscores (Kiefer-, Nacken- und Schulterschmerzen, Lumbago) sowie eine signifikante Verbesserung der Mundöffnung. Übrigens sind nach unserer Erfahrung Osteopathie und/oder Neuraltherapie auch vor einer KFO-Behandlung hilfreich, speziell bei Klasse II und unilateralem Kreuzbiss.

KUNZ: Ich bemühe mich, zur Bruxismustherapie die Stresshormon-Achse zu beeinflussen und gebe daher B-Vitamine, Zink und Omega-3-Fettsäuren. Weiters setze ich Phytotherapie ein, bei großer Spannung und Unruhe auch Anxiolytika. Kommt jemand öfter, gebe ich Entspannungsanleitungen. Sehr gut gegen Stress wirkt leichter Ausdauersport, das können auch flotte Spaziergänge sein.

Gibt es noch Punkte, die Ihnen besonders am Herzen liegen?

PITTSCHIELER: Ja, ich wünsche mir eine Überwindung des Schismas Human- und Zahnmedizin, die Generierung weiterer Daten zu den Ergebnissen von CMD-Therapien sowie die Etablierung eines Lehrstuhls für integrative Zahnheilkunde.

Herzlichen Dank für das Interview!

Priv.-Doz. Dr. PETER WALLNER
Umweltmediziner und Medizinjournalist
peter.wallner4@gmail.com

DDr. Elisabeth Pittschieler
Dr. Caroline Kunz