neunerhaus - Zahnarztpraxis für obdach- und wohnungslose Menschen

ZMT interviewte die „neunerhaus“-Geschäftsführerin Dr. Daniela Unterholzner.

Wie war Ihr Weg zum „neunerhaus?

UNTERHOLZNER: Zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort mit den wohl richtigen Kompetenzen. Ich habe zuvor beruflich Erfahrungen im Kultur- und Innovationsmanagement, Marketing und in der Erwachsenenbildung gesammelt. Ich habe mich schon immer mit gesellschaftlichen Fragen auseinandergesetzt, und auch Kunst und Kultur haben
mich vor allem dann fasziniert, wenn sie eben diese Fragen adressierten. 2016 habe ich dann ganz bewusst den Entschluss gefasst, in den Sozialbereich zu wechseln, und mich bei neunerhaus beworben, da diese Organisation schon damals den Ruf hatte, eine der innovativsten Organisationen in der Wohnungslosenhilfe zu sein. Ich habe dort die Stabstelle Projektentwicklung aufgebaut und 2017 die Co-Geschäftsführung von neunerhaus übernommen (und die Geschäftsführung der gemeinnützigen GmbH neunerimmo).

Was ist neunerhaus genau?

UNTERHOLZNER: neunerhaus ist eine Sozialorganisation mit Sitz in Wien, die obdachlosen und armutsgefährdeten Menschen ein selbstbestimmtes und menschenwürdiges Leben ermöglicht. Unser Ziel ist es, Betroffenen Hilfe zur Selbsthilfe zu geben, um ihre Lebenssituation nachhaltig zu verbessern. Wir arbeiten leidenschaftlich an zwei großen Zielen: Obdachlosigkeit in Wien zu beenden und obdachlose Menschen vom Rand in die Mitte unserer Gesellschaft zu holen. Wir bieten Angebote im Bereich Wohnen, Beratung und Gesundheit, das bedeutet konkret: drei neunerhaus-Wohnhäuser, Housing-First-Wohnungen, ein breitgefächertes (mobiles) sozialarbeiterisches Angebot, medizinische Versorgung im neunerhaus-Gesundheitszentrum sowie mobile Ärzte in fast 30 Einrichtungen der Wiener Wohnungslosenhilfe.

Wie lange gibt es die Zahnarztpraxis schon?

UNTERHOLZNER: 2009 startete neunerhaus das zahnmedizinische Angebot für unsere Zielgruppe und erhielt gleich im Gründungsjahr den Preis „SozialMarie“ für soziale Innovation in Europa. 2017 übersiedelte die neunerhaus-Zahnarztpraxis ins neunerhaus-Gesundheitszentrum. Seit dem Projektstart konnten wir über 10.000 Menschen behandeln.
Und die Nachfrage steigt.

Wie entstand die Idee, diese Praxis zu eröffnen?

UNTERHOLZNER: Seit der Gründung vor mittlerweile über 20 Jahren denken wir bei neunerhaus in unseren Hilfsangeboten für obdach- und wohnungslose Menschen immer einen Schritt weiter und gehen neue, mutige und innovative Wege – auch in Richtung Wohnen und medizinische Versorgung als Menschenrecht. Fünf Jahre nach unserer Gründung haben wir mit den mobilen Ärzten unser allgemeinmedizinisches Versorgungsangebot gestartet. Schnell war klar, dass es auch in punkto Zahngesundheit für unsere Zielgruppe eine eklatante Lücke gibt. Auch wenn es schwer vorstellbar ist, dass da Menschen sind, die selbst bei starken Schmerzen jahrelang nicht zum Zahnarzt gehen: Männer, Frauen und Kinder, für die ein Zahnarztbesuch alles andere als eine Selbstverständlichkeit ist, weil sie Angst vor Kosten oder keine Versicherung haben. Oder sich für den Zustand ihrer Zähne schämen. Mit schönen, gesunden Zähnen kommt auch wieder das Selbstbewusstsein zurück, sie sind oftmals eine Starthilfe in ein neues Leben.

Ist die neunerhaus-Zahnarztpraxis die einzige Einrichtung dieser Art in Wien? Gibt es in den Bundesländern etwas Vergleichbares?

UNTERHOLZNER: Die neunerhaus-Zahnarztpraxis im neunerhaus-Gesundheitszentrum in Wien-Margareten, die auch zahnerhaltend arbeitet, ist in dieser Form ein österreichweit einzigartiges Angebot.

Wie finanziert sich die Zahnarztpraxis? Wie viele ehrenamtliche Mitarbeiter gibt es?

UNTERHOLZNER: neunerhaus wird vom Fonds Soziales Wien gefördert und hat einen Vertrag mit der Österreichischen Gesundheitskasse. Wir sind aber zudem auf Spenden angewiesen. In der neunerhaus-Zahnarztpraxis arbeitet ein fix angestelltes Team aus Ordinationsassistentinnen und insgesamt 30 ehrenamtlichen Zahnärzten und -ärztinnen, die von Montag bis Freitag obdachlose, wohnungslose und nichtversicherte Menschen behandeln. Sie alle leisten Unglaubliches: Seit Jahren steigt die Zahl unserer Patienten. Die Krise hat die Nachfrage zusätzlich verstärkt. An vielen Tagen gelangt die Zahnarztpraxis an die Grenzen ihrer Kapazität, wir suchen also laufend Zahnärzte und Zahnärztinnen, die uns ehrenamtlich unterstützen.

Wie sieht Ihr Blick in die Zukunft aus?

UNTERHOLZNER: Vergangenheit und Gegenwart zeigen ganz deutlich, dass unsere Angebote auch in Zukunft mehr und mehr gebraucht werden. Das gibt uns einen klaren Auftrag für die nächsten Jahre und stärkt uns in unserem Anspruch und in unserem Tun. Gleichzeitig macht mich das auch traurig, dass viele Menschen vom heimischen Gesundheitssystem ausgeschlossen sind.

Gibt es noch einen Punkt, der Ihnen besonders am Herzen liegt?

UNTERHOLZNER: Ich wünsche mir, dass wir alle – als Gesellschaft und jede(r) Einzelne – mit offenen Augen und mit weniger Vorurteilen durch den Alltag gehen. Wohnungslosigkeit kann jeden und jede treffen, oftmals geht es ganz schnell. Wir tun alles, um Menschen in dieser Situation zu helfen, und sorgen dafür, dass auch dann ein Zahnarztbesuch kein Luxus wird. Das Leben auf der Straße ist hart genug, da sollten nicht auch noch Zahnschmerzen hinzukommen.

Herzlichen Dank für das Interview!

www.neunerhaus.at

Priv.-Doz. Dr. PETER WALLNER
Umweltmediziner und Medizinjournalist
peter.wallner4@gmail.com

Dr. Daniela Unterholzner