Kieferorthopädie in Zeiten der Gratiszahnspange - Beschleunigung der Regulierung und Non-Compliance-Geräte

Ein großer Teil unserer Patienten macht während der Zahnspange auch die Pubertät durch. Wir dürfen uns daher nicht durchgehend vernünftige Reaktionen und gute Mitarbeit erwarten.

Wenn es gute Chancen gibt, mit zumindest mäßiger Mitarbeit erfolgreich zu sein, versuchen wir natürlich, ob elastics und Übungen zum Erfolg führen. Zeichnet sich aber ab, dass gutes Zureden nicht hilft, müssen wir andere Methoden anwenden. Dabei ist anzumerken, dass das nicht, wie befürchtet, am Gratiszahnspangenklientel liegt. Vielmehr sind auch zahlende Eltern nicht mehr gewillt, ununterbrochen an die Zahnspange zu denken und die Kinder dazu zu bringen, die Hilfsmittel anzuwenden. Sie sind aber den vergleichsweise „brutalen“ Methoden gegenüber sehr viel aufgeschlossener. Wollten früher kaum Eltern eine Extraktion oder eine Vorschubmechanik akzeptieren, so ist ihnen heute eher eine problemlose, nicht allzu lang dauernde Methode wichtig. Das kommt uns entgegen, weil sich gezeigt hat, dass viele unserer Kompromissmethoden nicht stabil sind, sondern Rezidive oder Parodontalprobleme zur Folge haben.

Die Vertikale

Einen Teil des Tiefbisses kann ein hochelastischer Draht durch Positionieren der Brackets bekämpfen. Extrusion der Molaren und Intrusion der Frontzähne funktioniert besonders im Oberkiefer ganz gut. Besteht ein starker Überbiss oder ein Scherenbiss, kann es sein, dass sich der Patient die schon gelockerten Zähne immer wieder in die falsche Position zurückbeißt. Will man nur die Brackets vor dem Lockerbeißen schützen, macht man die Aufbisse nach Möglichkeit auf den 7ern und flach. Will man den Biss durch Hochwachsen der 7er heben, macht man die Aufbisse auf die 6er des Unterkiefers beidseits gleich hoch und so, dass noch ein Front-kantbiss möglich ist. Damit können die Kids ganz  gut essen. Durch die Entkoppelung der stark verzahnten Okklusion sind Zahnbewegungen wesentlich schneller möglich. Die gefürchteten Gelenksprobleme konnten wir nicht beobachten. Im Gegensatz zu früher halten die Compositeaufbisse sehr gut und müssen am Ende weggeschliffen werden. Das ist allerdings gefahrlos möglich. Der Spezialkunststoff ist leuchtend blau, die Grenze zum Schmelz daher sehr klar erkennbar. Schwieriger ist der offene Biss. Auch hier kann man viel über Bracketpositionierung erreichen, bei stärker offenem Biss werden wir um Aves (anteriore vertikale Elastics) und myofunktionelle Übungen nicht herumkommen. Ein paar Grundübungen zeigen wir unseren Patienten gerne selbst, für hartnäckige Fälle brauchen wir natürlich Logopäden.

Die Horizontal

Eine Wirkung auf die Knochenbasis dürfen wir uns ab etwa zwölf Jahren nicht mehr erwarten. Früher wollten wir das Wachstum mit Funktionskieferorthopädie stimulieren oder bremsen. Obwohl es mit diesen Methoden gute Erfolge gegeben hat, warten wir heute eher auf die fixe Zahnspange, auch wenn dann öfter eine Extraktion der oberen 4er oder manchmal eine Operation nötig wird. Zuerst klären wir im Fernröntgen, welcher Knochenteil „falsch“ liegt: Muss der Oberkiefer zurück, ist ein Headgear einen Versuch wert. Die Alternative ist die 4er-Extraktion und der Lückenschluss nach distal. Gar nicht selten ziehen die Eltern diesen schon bei der Erstbesprechung vor. Das ist eine planbare Alternative – nach etwa einem Jahr haben wir eine stabile Okklusion erreicht und damit gute Chancen, dass die restlichen Zähne ein Leben lang ohne Probleme halten. Muss der Unterkiefer vor, versuchen wir meist elastics. In einigen Fällen, wo wir nicht mit eifriger Mitarbeit rechnen, schlagen wir gleich „festsitzende Funktionskieferorthopädie“ vor. Die sanfteren Varianten haben Druckfedern zwischen Ober- und Unterkiefer, wie z.B. das PowerScope.. Damit der Druck nicht direkt auf die Brackets übertragen wird und diese lockert, werden abgewinkelte Ösen zwischengeschaltet. Der Draht darf sich ebenfalls nicht durch den Druck verbiegen: Wir verwenden für diese Mechanik 19x25 Stainless Steel. Das bedeutet, dass wir die Propulsionstechnik erst nach Nivellierphasen verwenden können. Dann allerdings erreichen wir sehr schnell Klasse 1. Bei stärkerer Klasse 2 kann man das Gerät über Stops nachaktivieren. Dadurch kann man auch bei Bedarf auf beiden Seiten unterschiedlich starken Vorschub einstellen. Die schnelle Korrektur ist natürlich das Ergebnis des Vorschubes und würde sofort wieder zurückgehen. Es empfiehlt sich, die erreichte Stellung etwa sechs Monate zu halten, dann hat sich das Muskelmuster umgestellt, das Profil ist deutlich besser und die neue Zahnstellung ist ebenfalls stabil. Die Apparatur ist anfangs lästig, weil man nur eingeschränkt nach lateral verschieben kann, das stört die Kids aber nur ein paar Tage. Noch stabiler ist das Herbst-Scharnier. Dabei werden gegossene Halterungen zementiert, der Technikaufwand und die Kosten sind wesentlich höher. Die festen Scharniere erlauben noch weniger Seitbewegungen. Ähnliche Hilfsmittel gibt es für die Klasse-3-Relation: Ist der Oberkiefer zu weit hinten, lohnt sich der Einsatz einer facial mask. Diese lassen wir nachts tragen. Sie stört zwar beim Schlafen auf dem Bauch, aber die einzige Alternative ist ein operatives Vorsetzen des Oberkiefers. In diesem Fall empfehlen wir dringend einen Versuch mit der Maske (außer man erkennt bei der Planung, dass der Fall nicht mit Zahnspange allein lösbar ist – dann empfehlen wir als Erstes eine chirurgische Planung, damit wir von Beginn an in die richtige Richtung behandeln). Ist der Unterkiefer zu weit vorne, gibt es ein Power-Scope, das den Oberkiefer nach vorne und den Unterkiefer zurückdrückt. Diese Klasse 3 erfordert noch längeres Festhalten, da der Unterkiefer leider sehr lange Wachstumspotenzial hat. Plant man eine Operation ein, sollte man die Regulierung knapp vor dem 18. Geburtstag starten.

Mittenkorrektur

Wir würden oft gerne Criss-cross-elastics einsetzen, die die Kinder aber nicht wirklich verwenden. Alternativ können wir mit Druck- und Zugfedern arbeiten. Diese werden wie unsere Lieblingsdrähte aus Nitinol gefertigt und wirken sehr stark und konstant über Wochen. Grundsätzlich versuchen wir, die Eltern mitentscheiden zu lassen. Wir raten eher zu sicheren Methoden. Eine langdauernde, nicht zum Erfolg führende Regulierung führt zu Zahnlockerung und Bewegung in verschiedenen Richtungen – dabei kann es zu Resorptionen kommen. Das intermittierende Tragen der Elastics kann wegen dem Wechsel zwischen Lockerung und Festigung in der falschen Position auch zu Schmerzen führen. Bei einer raschen Bewegung in der erwünschten Richtung gibt es normalerweise weder Schäden noch anhaltende Schmerzen, außer in den ersten drei Tagen. Kieferorthopädie in Zeiten der Gratiszahnspange Beschleunigung der Regulierung und Non-Compliance-Geräte
1–2/2020

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Dr. AGNES WOLF
Dr. EVA MARIA HÖLLER