Kieferorthopädie in Zeiten der Gratiszahnspange - Teil 1: Abnehmbare Zahnspangen

Seit Einführung der Gratiszahnspange hat sich das Spektrum kieferorthopädischer Therapien radikal verändert.

Hatte es zuerst geheißen, dass bei abnehmbaren Spangen alles beim Alten bleibe, wurden dann trotzdem die Bewilligungen für herausnehmbare Apparate stark eingeschränkt und in Wien und bei der BVA überhaupt nicht mehr gegeben, obwohl wir wie zum Hohn neue Tariflisten mit nur mehr 25% Patientenanteil bekommen haben! Wenn Patienteneltern versucht haben, trotzdem noch eine Behandlung genehmigt zu bekommen (mit teilweise guten, medizinischen Begründungen), wurde ihnen vermittelt, dass die Methode obsolet und nicht erfolgversprechend sei. In Wahrheit war die abnehmbare Kieferorthopädie bei guter Mitarbeit durchaus ein Erfolgsmodell – ich habe etwa 80% zufriedenstellende Ergebnisse gehabt, auch wenn man den PAR-Index ermittelt. Und die Rezidivquote nach abnehmbarer Kieferorthopädie ist sehr niedrig. Allerdings hat sich die Einstellung der Patienten auch sehr verändert. Im alten System waren die Eltern hochmotiviert, dass die Kinder die Zahnspange auch verwenden, die Patientenanteile für drei Behandlungsjahre waren schließlich weit geringer als die Kosten für eine festsitzende Variante, die ja nur wenig bezuschusst wurde.
Mittlerweile wollen die Eltern meist nicht täglich darauf achten, dass die Kinder die Spange tragen und bevorzugen irgendeine festsitzende Variante – und möglichst gratis. Selbst ein Fan abnehmbarer Spangen wie ich kann nur mehr in seltenen Fällen herausnehmbare Spangen einsetzen. Und die jungen Kollegen haben nur wenig über diese Methoden gelernt, auch wenn sie eine sehr gute kieferorthopädische Ausbildung haben. Die klassische abnehmbare Spange ist nur als Privatleistung möglich und die Patienteneltern müssen unterschreiben, dass sie diese Variante möchten, auch wenn sie Anspruch auf eine andere, festsitzende Gratisspange hätten, und dass die Spangenbehandlung zwei bis drei Jahre dauert.
Natürlich müssen wir den Patienten auch die Gratiszahnspange genau erklären. Zum richtigen Zeitpunkt ist die fixe Variante schneller und sicherer, in den meisten Fällen erfordert sie auch weniger Mitarbeit. Wenn weder besonders schlechte Schmelzqualität noch bereits bestehende Haltungs- und Koordinationsstörungen vorliegen, bevorzugen wir als verantwortliche Behandler mittlerweile festsitzende Spangen.
Hauptsächlich verwendetes abnehmbares Gerät: Kybernetor mit Pfeilklammern zum Verklemmen am Oberkiefer, palatinal reduzierter Kunststoff, damit die Zunge genug Platz hat. Der Palatinaldraht wird wie beim Bionator gestaltet. Das Gerät ist sehr gut mit Headgearbügel oder Pelotten kombinierbar.
Abnehmbare Spangen wirken wachstumsmodulierend. Während des Zahnwechsels, wenn ohnehin viel Kieferwachstum stattfindet, können sie sichtbare Umformungen bewirken, in erster Linie durch myofunktionelle Veränderungen. Diese sind allerdings auch durch gezielte festsitzende Therapien möglich – etwa Klasse-2-Züge in der gleichen Wachstumsphase oder Non-Compliance-Vorschubgeräte etwas später.
Früher beliebte Geräte sind schwierig geworden: Der elastisch offene Aktivator wird gerne ausgespuckt und verlangt viel Konsequenz der Eltern. Der sehr gut wachstumsregulierende Funktionsregler muss während des Hochwachsens der Prämolaren im Kiefer und des Zahnwechsels getragen werden, also etwa vier Jahre – das wollen die Patienten nicht mehr. Die sehr effektiven myofunktionellen Übungen für Zunge oder Lippen sind ebenfalls nicht mehr beliebt, der Terminkalender vieler Kinder ist schließlich randvoll.
Die zweite Möglichkeit, wie wir abnehmbare Geräte verwenden können, sind interzeptive Behandlungen. Kieferorthopäden können entscheiden, welches Gerät zum Einsatz kommt. Als Vertragskieferorthopäden benötigen wir auch keine Bewilligung, sondern können einfach loslegen. Wahlkieferorthopäden müssen das IOTN-Formular einreichen. Die Bewilligung kann allerdings einige Monate dauern, sodass manchmal wichtige Wachstumsphasen versäumt werden. Wirklich realistisch sind nur Indikationen, die rasch behebbar sind und wenig Rezidivtendenz haben. Der Tarif deckt maximal die Behandlung für ein Jahr ab – mit einem einzigen Gerät. Für abnehmbare Geräte gut geeignet sind die Indikationen frontaler Kreuzbiss (von ein oder zwei Zähnen) und die große Frontzahnstufe. Der Kreuzbiss funktioniert gut mit zarten Platten oder mit einem Kybernetor, alternativ können fixe Varianten wie etwa Goshgarian verwendet werden (wird im nächsten Artikel beschrieben). Für die großen Stufen eignet sich ein Kybernetor. Ist der Unterkiefer klein, können Pelotten das Wachstum fördern. Wenn der Oberkiefer skelettal groß ist oder eine Schluckstörung vorliegt, empfiehlt sich der Einbau eines Headgearbügels im Prämolarenbereich. Über Länge und Einstellung des Bügels kann man den Biss heben oder schließen. Die extraorale Kraft wird von einem Kombi-Headgearhäubchen erzeugt. Ideal sind etwa zwölf Stunden Tragezeit. Headgearbügel und Pelotten sind auch kombinierbar. Die abnehmbaren Geräte können prinzipiell an Zahnwechsel und Wachstum gut angepasst werden, ich lasse sie meist zur Retention und Lenkung des Zahnwechsels weitertragen. Wichtig ist allerdings, nach Behebung des Einstufungsmerkmals das Ende der interzeptiven Behandlung an die Kasse zu melden. Da die interzeptive Therapie früh gemacht werden muss, weil es sich ja um stärker werdende Fehlbildungen handelt, kommt es häufig vor, dass im weiteren Zahnwechsel neue, massive Fehlstellungen entstehen, etwa außen stehende Eckzähne. Diese wären dann eine Indikation für eine festsitzende Gratiszahnspange, allerdings muss zwischen Abschluss der interzeptiven Behandlung und dem Beginn der Hauptbehandlung ein Jahr liegen. Das bedeutet einen großen administrativen Aufwand. Wir müssen am Beginn und Ende der Behandlung Modelle, Fotos und Röntgenbilder liefern. Vertragsbehandler haben sehr viele Patienten. Ausdrucken der Befunde und Postsendungen wäre ein riesiger Aufwand, die meisten haben daher bereits möglichst viel in digitaler Form. Damit haben wir die Möglichkeit, über das E-card-System digitale Modelle, Fotos und Röntgen zu versenden. In dieser Beziehung sind die Wahlkieferorthopäden stark benachteiligt. Die Digitalisierung rentiert sich nur bei großem Praxisumfang und eine problemlose Übermittlung geht nur über das formularloses Übertragungssystem der E-card. Außerdem fordern einige Kassen zur Erfolgskontrolle (im Einzelfall!) vor der Erstattung der Zuschüsse an die Patienten Duplikate der Anfangs- und Endmodelle an, für die Kollegen mühsam und teuer.

Dr. AGNES WOLF
Dr. EVA MARIA HÖLLER

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