Kieferorthopädie in Zeiten der Gratiszahnspange - Teil 3: Die Hauptbehandlung

Gleich vorweg: Es ist nicht das geworden, was wir uns vorgestellt haben. Unsere erste Vorstellung wäre gewesen, dass jeder Anspruchsberechtigte bei seinem Hauszahnarzt (oder einem Kieferorthopäden in der Nähe) eine Zahnspange bekommt, idealerweise nach Bewilligung seitens der Kasse. Die Krankenversicherungen hatten aber ganz andere Ideen.

Direkte Verträge sollten nach Bezirken vergeben werden, Wahlzahnärzte mussten sich durch Präsentation erfolgreicher Fälle qualifizieren. In den ländlichen Bezirken war das ein relativ unaufgeregter Prozess: Die Zahl der Bewerber entsprach in etwa dem Bedarf an Planstellen. Außerdem „leisten“ sich doch viele Landbewohner einen Wahlarzt, weil der nächste Vertragskieferorthopäde doch weit weg ist und unsere jugendlichen Patienten ja noch nicht selbstständig mobil sind.
In großen Ballungsräumen, speziell in Wien, sieht die Sache ganz anders aus: Bei Einführung der Gratiszahnspange gab es für die 32 Kassenplanstellen 300 Bewerber, die nach einem komplizierten System gereiht wurden. Dementsprechend viele Wahlkieferorthopäden sind jetzt tätig. Wir erleben allerdings immer noch einen regelrechten Ansturm an Patienten, viele davon sind noch nicht wirklich in unserem Sozialsystem angekommen. Oft müssen wir sie zum Vorsanieren und zu einer ersten Mundhygiene schicken, bevor an eine Zahnspange zu denken ist – und recht oft haben sie auch bereits einige zerstörte oder fehlende Zähne. Diese Patienten sind nicht bereit, einen Anteil zu bezahlen, auch wenn es sich um sehr kleine Beträge handelt. Sie haben allerdings auch leichten Zugang zu vielen Vertragskieferorthopäden: Wir sind großteils entlang der U-Bahnen angesiedelt.
Die meisten von uns übermitteln bereits alle Unterlagen über das FUS (formularloses Übertragungssystem) der E-Card. Das funktioniert für elektronische Modelle, Fotos und Röntgen sehr gut, erfordert aber anfangs eine große Investition und relativ viel Fortbildung, rentiert sich also nur bei großem Arbeitsumfang. Einen schweren Stand haben die Wahlkieferorthopäden. Sie brauchen Bewilligungen, die oft lange dauern, und müssen für die Auszahlung des letzten Teils der Behandlungspauschales im Einzelfall einen Erfolgsnachweis erbringen. Dabei ist auch die Übermittlung der Unterlagen relativ aufwändig.

Wie sieht sie nun tatsächlich aus, die Gratiszahnspange?

Entgegen ersten Befürchtungen, dass hier eine lieblose Sparvariante entstehen wird, ist es in Wahrheit so, dass die meisten Kollegen so weitergearbeitet haben wie vor der Einführung der Gratiszahnspange. Wie alle anderen Gebiete der Zahnheilkunde auch, befindet sich die Kieferorthopädie durch technischen Fortschritt in ständigem Wandel. Natürlich macht man im Laufe eines Berufslebens viele Veränderungen mit, alle Kollegen verwenden mit Begeisterung die hochelastischen NiTi-Drähte, die immer wieder in ihre Ausgangsform zurückgehen und bei reinem Engstand fast von selbst wirken.
Trotzdem gibt es auch grundlegendere Unterschiede: Ich habe Molarenbänder und Brackets als reine Halterungen verwendet, möglichst ohne Torque und Angulation. Die Information habe ich in den Draht gebogen, mit Knicks, die entschieden haben, in welche Richtung die Bewegung erfolgt, und komplizierten Loops, um die Kraft herabzusetzen und besser dosieren zu können. Das Einligieren mit feinem Draht oder Elastics hat entschieden, wie hoch die Friktion sein soll. Zusätzlich verwendet wurden Zug- und Druckfedern sowie Gummizüge zum Überstellen einer Klasse 2 oder 3 und Schließen des Bisses.
Mittlerweile gibt es selbstligierende Brackets, die im Bracket selbst viel Information für jeden einzelnen Zahn haben und bei denen der Draht über kleine Stifte oder Schnappverschlüsse befestigt wird. Dieses System bietet einige Vorteile: Ein- und Ausligieren geht sehr schnell, es kommt durch weniger starre Kraftübertragung zu weniger Lockerungen der Brackets während des Aus- und Einligierens und auch beim Essen. Das ist interessant, weil Klebetermine Zeit kosten und Reparaturen zumindest in Wien von den Kassen nicht extra bezahlt werden. Für die Molaren werden ebenfalls Attachments geklebt, die durch neue Kleber und weniger starre Drähte auch gut halten. Die zeitaufwändigen Bänder werden eher selten verwendet. Die Brackets sind relativ klein und durch wenig Plaqueretentionsnischen sehr gut zu putzen.
Sehr viel entscheidet die Bracketpositionierung, etwa um die Front zu extrudieren oder auch zu intrudieren. Bracketkleben ist daher die wichtigste ärztliche Handlung bei diesem System; wer ganz sicher gehen will, verwendet ein Messkreuz dazu. Hilfsmittel wie Zug- und Druckfedern bleiben gleich, die Verwendung der Elastics kann man durch Brackets mit kleinen Hooks leichter machen.
Und ja, die Methoden können natürlich kombiniert werden. Auch im modernen System kann ein 30°-Verankerungsknick ganz nahe am Bracket des Segments, das sich nicht bewegen soll, Wunder wirken. Und das ist das Schöne an der Übergabeform, für die wir uns entschieden haben: Wir können erfolgreiche Methoden der alten und neuen Schule einfach mischen.
Einige Kollegen beschweren sich, dass der Kassentarif nicht kostendeckend sei. Naheliegend, dass der erste Gedanke war, am Material zu sparen oder die Feineinstellung nicht so perfekt zu machen. Sinnvoller ist es, auf reibungslose Arbeitsabläufe, geringeren Zeitaufwand beim Drahtwechsel und kurze Gesamtbehandlungszeit zu achten. Klingt gut, aber ist es auch realistisch? Wir verwenden viel Zeit für Aufklärung und Motivation der Patienten und der Erziehungsberechtigten. Nur wenn alle wenigstens eine Ahnung bekommen, worum es wirklich geht, können wir auf entsprechende Mitarbeit hoffen.
Natürlich entscheidet auch die Planung vieles. Nach vielen Jahren Kieferorthopädie glaube ich heute, dass es besser ist, im Bedarfsfall Zähne zu ziehen, als an die äußersten Grenzen der Bogenentwicklung zu gehen – die Langzeitergebnisse sprechen eine deutliche Sprache. Wo wir allerdings riskieren, dass es länger dauert, sind unsere bereits vorgeschädigten Jugendlichen: Ein bereits wurzeltoter Zahn (meist ein 6er) wird im Extraktionsfall natürlich anstelle des leichter zu korrigierenden, aber noch unbeschädigten Prämolaren geopfert. Das erfordert mehr Engagement und eine etwas längere Behandlung, aber der Großteil unserer Kids kann sich wahrscheinlich nie ein Implantat leisten. Außerdem sind sie ja alle sehr jung, und ewig hält auch das beste Implantat nicht, der kieferorthopädische Lückenschluss aber schon.

Wie ist das mit den Kosten?

Meine „alten“ Brackets waren offenbar auch Luxusteile, sie waren etwa gleich teuer wie die neuen von Frau Dr. Wolf. Bebänderungszeit und Nachstelltermine sind auf die Hälfte geschrumpft: Ich habe drei Stunden für eine Bebänderung gebraucht, jetzt sind es 1½, für Nachstellen habe ich 30 Minuten veranschlagt, jetzt sind es 15. Vergleicht man die Gesamtbehandlungszeit, liegen wir gleich: 1–1½ Jahre festsitzend, dann kommen selbst (digital) gefertigte Aligner. Die relativ kurze Behandlungszeit geht aber nicht auf Kosten des Ergebnisses, wir streben ziemliche Perfektion an, weil wir uns dann viel Ärger sparen. Ein weitgehend perfektes Ergebnis bei Jugendlichen hat gute Stabilitätschancen, auch wenn sie unseren Haltealigner nicht ganz vorschriftsmäßig tragen. Andernfalls gibt es großen Diskussionsbedarf, auch wenn es sich „nur“ um eine Gratiszahnspange gehandelt hat. Unter diesem Aspekt sind auch die meisten Non-Compliance-Geräte zu sehen: Besser eine überschaubare Zusatzausgabe als mehrere Termine ohne Behandlungsfortschritt.

Dr. AGNES WOLF
Dr. EVA MARIA HÖLLER

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