Innsbrucker Zentrum - Zahnmedizin und seltene Erkrankungen

ZMT sprach mit Ass.-Prof. Priv.-Doz. Dr. Ines Kapferer-Seebacher, Univ.-Klinik für Zahnersatz und Zahnerhaltung Innsbruck, über die Manifestation von seltenen Erkrankungen im Mundbereich.

Wie sind „seltene Erkrankungen“ definiert und wie viele kennt man?

KAPFERER-SEEBACHER: Eine Krankheit ist in Europa als selten definiert, wenn sie bei weniger als einer von 2000 Personen auftritt. Weltweit gibt es allerdings mehr als 8000 seltene Erkrankungen, und somit ist die Gesamtzahl an Menschen, die daran leiden, doch wieder groß. In Europa sind es ca. 36 Millionen, in Österreich 400.000 Menschen (laut „Pro Rare Austria“). Der Großteil der Erkrankungen hat eine genetische Ursache. Eine durch die Werbung in Österreich sehr bekannt gewordene seltene Erkrankung ist die Schmetterlingskrankheit, Epidermolysis bullosa. Ursache ist eine angeborene Mutation in einem von neun Genen, deren Genprodukte für den intakten zellulären Aufbau der Haut und auch der (Mund-)Schleimhaut notwendig sind.

Wie häufig äußern sich seltene Erkrankungen durch Symptome im Mundbereich?

KAPFERER-SEEBACHER: Die Zahlen dazu sind sehr vage, aber man geht davon aus, dass ca.15 % der seltenen Erkrankungen Symptome im Mund und an den Zähnen aufweisen. Menschen mit seltenen Erkrankungen haben meistens einen langen Leidensweg hinter sich. Bis zur richtigen Diagnose vergehen im Schnitt etwa drei Jahre, in denen Patienten von Facharzt zu Facharzt wandern und teilweise auch auf Unverständnis stoßen. Auch Kostenersatz durch die Versicherung und Langzeitprognose sind ohne klare Diagnose ein großes Problem.

Gibt es Fälle, wo Zahnärzte die ersten sind, die an eine seltene Erkrankung denken?

KAPFERER-SEEBACHER: Wenn das Hauptmerkmal der seltenen Erkrankung ein zahnmedizinisches ist, ja! Ich selbst bin so zu den seltenen Erkrankungen gekommen. 2012 stellte sich bei mir eine junge Patientin mit schwerer Parodontitis vor. Auf den ersten Blick war mir klar, dass diese Parodontitis „anders“ ist, viel schwerer und mit einer eigenartigen Progredienz, die Gingiva war auffallend dünn. Als die Schwester und die Mutter und dann auch noch Onkel, Tanten, Cousinen, Cousins ähnliche parodontale Muster aufwiesen, war der Verdacht da, dass es sich um eine seltene Erkrankung mit einer zugrundeliegenden genetischen Veränderung handelt. Auch wenn Zahnärzte und -ärztinnen nicht die ersten sind, die bei einem Patienten an eine seltene Erkrankung denken, können Symptome im Mund und an den Zähnen bei der Diagnosefindung das Zünglein an der Waage sein. Dazu ein weiterer Fall: Ein neunjähriges Mädchen mit schwerer Epilepsie wurde zur Zahnsanierung in Vollnarkose an die Zahnklinik Innsbruck überwiesen. Die Ursache der Epilepsie war ungeklärt. Die gelben Zähne mit dem stark bröckelnden Schmelz (Amelogenesis imperfecta) waren der entscheidende Hinweis, dass es sich um ein Kohlschütter-Tönz-Syndrom handelt.

Was sind die häufigsten dentalen Anomalien?

KAPFERER-SEEBACHER: Es gibt viele zahnmedizinische Symptome: Zahnunterzahl, Zahnüberzahl, Durchbruchsstörungen, Form- oder Farbveränderungen, überzählige Frenula, gespaltene Uvula, Schmelz- oder Dentinbildungsstörungen, schwere parodontale Destruktionen, Weichgewebstumoren etc.

Welche Bespiele für Mineralisationsstörungen gibt es?

KAPFERER-SEEBACHER: Ein Beispiel habe ich bereits mit dem Kohlschütter-Tönz-Syndrom genannt. Bei der tuberösen Sklerose finden sich kleine Dellen an den Zähnen, die primäre Nephrokalzinose kann mit einer Amelogenesis imperfecta vergesellschaftet sein. Ich denke aber, es hat für den Praktiker wenig Sinn, sich einzelne Syndrome zu merken. Wichtig ist, Auffälligkeiten im Mund zu erkennen und nachzufragen, ob der Patient/die Patientin weitere Symptome hat, und gegebenenfalls mit dem behandelnden Arzt Rücksprache zu halten. Bei Zahnfehlbildungen sind oft auch die Haut mit den Schweißdrüsen, Haare und Fingernägel betroffen. Wenn der Patient eine Abklärung wünscht, sollte er an ein Spezialzentrum überwiesen werden. Eine Amelogenesis imperfecta kann allerdings auch ohne weitere Symptome auftreten.

Was genau versteht man unter dem parodontalen Ehlers-Danlos-Syndrom?

KAPFERER-SEEBACHER: Das pEDS ist eines von 13 verschiedenen EDS. Im Studium haben wir alle das EDS als Syndrom mit überdehnbarer Haut und Gelenken kennengelernt. Diese Symptome sind beim pEDS nur milde ausgeprägt. Hauptmerkmale sind die schwere Parodontitis, die im jugendlichen Alter diagnostiziert wird, eine auffallend dünne Gingiva und meistens vernarbende Hämatome an den Schienbeinen. Verursacht wird das pEDS durch eine Mutation in Komplement 1.

Mit welchen weiteren seltenen Erkrankungen beschäftigen Sie sich derzeit?

KAPFERER-SEEBACHER: Grundsätzlich beschäftige ich mich mit jeder seltenen Erkrankung, mit der sich ein Patient an der Zahnklinik vorstellt. Am häufigsten sind das Schmelzbildungsstörungen. Leider können wir nicht immer eine Diagnose finden. So wird bei uns etwa eine Familie betreut, deren Zähne extrem verkürzte Wurzeln ausbilden. Bisher konnten wir keine Ursache oder eine Diagnose dafür finden.

Könnten Sie bitte kurz das Zentrum für seltene Erkrankungen vorstellen?

KAPFERER-SEEBACHER: Da die Diagnosefindung bei seltenen Erkrankungen sehr komplex ist und Spezialwissen erfordert, wurde in Innsbruck ein Zentrum für seltene Krankheiten von Haut, Bindegewebe und Zähnen gegründet (CDDG, Centrum für Dermato-Dento-Genetik). Zum Expertenteam gehören Vertreter der Humangenetik, Zahnmedizin, Dermatologie und Pädiatrie der Universität Innsbruck. Ziel ist es, Menschen mit ungeklärten Krankheiten und Beschwerden zu einer Diagnose und möglicherweise zu einer erfolgreichen Therapie zu verhelfen. Es ist uns ein großes Anliegen, die Ursachen dieser Krankheiten genauer zu verstehen, genetische Nachweisverfahren zu entwickeln und gegebenenfalls neuartige Therapieverfahren zu erarbeiten.

Vielen Dank für das Interview!

Dr. PETER WALLNER

Umweltmediziner und
Medizinjournalist
peter.wallner4@gmail.com

Ass.-Prof. Priv.-Doz. Dr. Ines Kapferer-Seebacher