Fallbeispiel - Kieferorthopädie in der Praxis

Ein häufiger Grund, warum Patienten eine kieferorthopädische Behandlung wünschen, ist ihr Engstand in der unteren Front.

Die Staffelstellung der Frontzähne und das dadurch bedingte verminderte interradikuläre Knochenangebot sind Risikofaktoren für Karies und Parodontalerkrankungen. Typische Krankheitsbilder bei Engstand sind Karies, Zahnfleischentzündungen bei erschwerter Hygienefähigkeit, Zahnlockerung und parodontale Zahnwanderungen bei falscher Belastung der Zähne, weiters Zahnhartsubstanzverlust, der meist in Abhängigkeit von der Fehlstellung von Zahn zu Zahn unterschiedlich ausgeprägt ist.
Dennoch sind medizinische Indikationen häufig nicht das primäre Anliegen der Patienten, warum sie eine kieferorthopädische Ordination aufsuchen. Speziell Erwachsene erhoffen sich durch die Begradigung der unteren Zähne eine ästhetische Verbesserung. Offensichtlich spielt dabei die von Vigg beschriebene Tatsache, dass mit zunehmendem Alter beim Sprechen immer weniger von den oberen, dafür immer mehr von den unteren Frontzähen zu sehen ist, eine Rolle. Auch hat  sich  ausreichend herumgesprochen, dass neue kieferorthopädische Verfahren wenig beeinträchtigen und gewünschte Behandlungsziele auch bei Erwachsenen rasch und einfach erreicht werden. Dass die kieferorthopädische Behandlung eines Engstandes, insbesondere wenn die Erwartungen an die Ästhetik hoch sind, nicht immer problemlos verlaufen muss, möchte ich anhand eines Fallbeispiels diskutieren.

Fallbeispiel

Meine 26-jährige Patientin wünschte eine kieferorthopädische Behandlung, weil ihr die Fehlstellung der unteren Frontzähne nicht gefiel. Aber eigentlich hoffte sie, dass sich mit der Begradigung der Zähne auch das ganze Aussehen verbessern würde. Ihr Gesichtstyp lässt sich als retrognath und vertikal beschreiben, mit einer leichten Rücklage des Unterkiefers.  Ein ungezwungener Lippenschluss war nicht möglich, deshalb atmete sie meistens durch den Mund. Ihre Zahnbögen waren komprimiert mit einem Engstand und einem verstärkten Überbiss in der Front. Die Seitenzähne waren satt in der Klasse-I-Relation verzahnt. „Ich habe als Zwölfjährige meine Zahnspange nicht gerne getragen und deshalb wurde die Behandlung vom Arzt abgebrochen. Bevor ich noch einmal mit einer Regulierung starte, möchte ich Ihnen sagen, dass ich bei einer Mitarbeit, falls diese nötig ist, nicht verlässlich bin“, teilte sie mir gleich zu Beginn bei der Besprechung der Analyseunterlagen mit. Wir vereinbarten eine Multibracketbehandlung. Damit sollten die Zahnbögen ausgeformt und der tiefe Biss sowie der Engstand beseitigt werden.
Das Aufrichten der unteren Seitenzähne führte zu einer geringgradigen Distalverzahnung und somit zu einem Problem, das ich im Vorhinein nicht ausreichend besprochen hatte. Um die Verzahnung der Seitenzähne zu korrigieren, verordnete ich intermaxilläre Klasse-II-Gummizüge. Diese Lösung war aus zwei Gründen nicht zielführend: Zum Einen erklärte mir die Patientin sofort, dass ich sie über das Tragen von Gummizügen nicht aufgeklärt hätte und sie nicht gewillt sei, diese zu tragen. Zum Anderen würde das Gummy-Smile, das ich zu diesem Zeitpunkt als besonders störend empfand, durch die Kraftrichtung der Elastics noch verstärkt.
„Um Ihre Regulierung zufriedenstellend abschließen zu können, müssen die oberen Zähne nach hinten und oben bewegt werden. Um das zu erreichen tragen Kinder die sogenannten Kopfkappen. Bei Erwachsenen können die Zahnbewegungen mit Kräften zu Schrauben, die an geeigneter Stelle im Kieferknochen fixiert sind, durchgeführt werden.“
Es fiel mir nicht leicht, meine Patientin nun für diesen Therapieplan zu gewinnen. Zu meinem Glück war sie sofort einverstanden, scheute nicht die dadurch bedingten Unannehmlichkeiten und zusätzlichen Kosten und ließ sich im Oberkiefer zwei Schrauben setzen. Das ist nicht selbstverständlich, weil die öffentliche Meinung oft dahin geht,  dass medizinische Leistungen gratis sind und ein nicht vorher besprochener Mehraufwand sowie Mehrkosten zu Lasten des Arztes gehen.
Meine Patientin wurde schließlich, wie die  Schlussdokumentation zeigt, mit dem gewünschten okklusalen Ergebnis und auch mit der erhofften ästhetischen Verbesserung im Mundbereich, wie einem ungezwungenen Lippenschluss und einer Verminderung des Gummy-Smiles belohnt.

MR Dr. DORIS HABERLER
niedergelassene
Kieferorthopädin in Wien
office@dr-haberler.at

Bilderserie zum Fallbeispiel:


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