Wussten Sie schon: Zungendiagnostik in der Zahnarztpraxis

Ein auffällig roter Fleck zierte die Zungenspitze einer meiner Neupatientinnen. Im Vorgespräch hatte sie bereits angegeben, dass sie momentan keine zahnärztlichen Beschwerden hätte. Trotzdem hatte sie sich auf Anraten eines Bekannten für einen Besuch in unserer Praxis entschieden.

Im letzten halben Jahr hatte sie sich immer etwas geschwächt und weniger leistungsfähig gefühlt. Ihr Hausarzt hatte bis auf einen gering erhöhten und nicht therapiebedürftigen Bluthochdruck nichts feststellen können. Allerdings hatte sie zuvor immer wieder Probleme an diversen Zähnen gehabt. Nach längerer Diskussion mit ihrem Zahnarzt, der davon nicht begeistert war, sich aber dennoch darauf einließ, waren ihr in den letzten zwei Monaten zwei wurzelkanalbehandelte Zähne inklusive radikulärer Zysten entfernt worden. Bei einem war zunächst noch der Versuch einer Wurzelspitzenresektion vorgenommen worden. Da die Beschwerden aber nicht zurückgingen, wurde schließlich auch dieser Zahn entfernt. Die Patientin war zufrieden, dass ihre dauernden Zahnschmerzen seither zurückgegangen waren, aber ihr Erschöpfungszustand machte ihr weiterhin Sorgen. Sie wollte einfach abgeklärt haben, dass nicht noch weitere unentdeckte Zahnherde vorlägen und Ursache für ihre Beschwerden wären. Ich führte wie gewohnt eine klinische Untersuchung sowie die Auswertung der Röntgenbilder durch. Es zeigte sich sonst alles regulär, und auch die Wundheilung an den Operationsstellen schien wunschgemäß voranzuschreiten. Ich ging mit der Patientin alles genau durch, kam dann auch zurück zu meiner Anfangsentdeckung und fragte sie nach dem roten Fleck auf ihrer Zungenspitze. Selbstverständlich war er der Patientin auch schon aufgefallen. Zeitlich, aber da war sie sich nicht ganz sicher, könnte er durchaus zeitgleich mit ihrer verringerten Leistungsfähigkeit aufgetreten sein. Die Zunge spielt in der zahnärztlichen Praxis, obwohl sie das größte Organ der gesamten Mundhöhle darstellt, bei Befundung und Diagnostik kaum eine Rolle. Ganz anders ist es in vielen östlichen Medizinsystemen, in denen die Zunge als Reflexsystem betrachtet wird. Das heißt, dass in diesen Medizinsystemen die Zungenbetrachtung zur Interpretation von Veränderungen im Körper herangezogen wird. Da die Zunge bereits frühzeitig, häufig lange vor Laborbefunden, Röntgenbildern oder Spiegelungen, Veränderungen der einzelnen Organe im Gesamtsystem zeigt, war bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts auch in unserer westlichen Medizin die Beobachtung der Zunge ein fest integrierter Bestandteil von ärztlichen Untersuchungen. Auch heute noch wird in der Schulmedizin bei spezifischen Erkrankungen wie Typhus, Scharlach, Sjögren-Syndrom, Tuberkulose oder auch bei der Unterfunktion der Schilddrüse die Zunge in die Diagnostik und Beobachtung des Krankheitsverlaufs miteinbezogen. Durch die genaue Betrachtung des Zungenkörpers, der Farbe des Zungenbelages und der Feuchtigkeit der Zunge kann der in europäischer Zungendiagnostik geschulte Behandler Erkrankungen frühzeitig erkennen, zeitliche Prognosen stellen und auch den Therapieverlauf beobachten. Sichtbare Veränderungen auf der Zunge stellen immer nur eine Verdachtsdiagnose dar. Erst in Kombination mit ausführlicher Anamnese, klassischen klinischen Untersuchungen und Labordiagnostik wird dieser Verdacht dann verifiziert. Für die Blickdiagnostik der Zunge benötigt der Behandler nichts weiter als gutes Licht und einen Patienten, der sich traut, ihm die Zunge weit und doch ohne Anstrengung herauszustrecken. Bei der systemischen Untersuchung der Zunge vergleicht der Behandler diese immer mit einer gesunden Zunge. Diese wird durch folgende Zeichen verifiziert:

1. zartrosa Oberfläche
2. Papillen sind gleichmäßig über die
gesamte Zungenoberfläche verteilt
3. hauchdünner, transparenter Belag
4. nur mäßige Flüssigkeit des Zungenkörpers
5. Volumen der Zunge passt zum
Körpervolumen des Patienten
6. ruhige Lage der Zunge beim Herausstrecken

Abweichungen von dieser Idealzunge, wie sie fast bei jedem Erwachsenen auftreten, können ein Hinweis darauf sein, was der Patient aktuell tun kann, um seine Gesundheit zu verbessern. So können dicke und geschwollene Zungen ein Hinweis auf einen Flüssigkeitsstau im Körper sein. Die Ursachen hierfür sind vielfältig. Sie dürfen durch weitere Untersuchungen genauer bestimmt werden. Da Schwermetallbelastungen häufig auch einen Flüssigkeitsstau im Körper verursachen, könnte hier für den Zahnarzt ein wichtiger diagnostischer Hinweis liegen. Risse im Zungenkörper repräsentieren den Zustand der Magen- und Darmschleimhaut. Je tiefer und umfangreicher diese Risse sind, desto mehr kann aber auch von einer Störung im Säure-Basen-Haushalt ausgegangen werden. Die meist vorliegende Übersäuerung, häufig durch übermäßig saure Ernährung, aber auch durch Fehlverhalten im Lebensstil ausgelöst, führt biochemisch auch zum Abbau von Calcium aus dem Knochen und ist somit an den Krankheitsbildern Parodontitis und Osteoporose beteiligt. Die Parodontitis, heute häufigste Ursache für Zahnverlust, tritt fast immer mit Säurezeichen auf der Zunge zugleich auf. Sieht der Zahnarzt dies in seiner Voruntersuchung, ist klar, dass für eine optimale Therapie mit Attachmentgewinn eine Kürettage alleine nicht ausreichend ist. Mit dem Patienten muss gleichzeitig über Ernährung und Lebensstil gesprochen und ein orthomolekularer Mineralstoffmangel z.B. von Calcium, Magnesium, Kalium, Vitamin C, Vitamin D oder Bor durch Substitution ausgeglichen werden, um ein optimales Ergebnis zu erzielen. Der Zahnarzt kann also durch Zungendiagnostik eine Menge Hinweise erhalten, die in seiner zahnärztlichen Therapie zu verbesserten Ergebnissen führen. Durch die Zunge erhält er ohne viel Mehraufwand auch Informationen, wie es um den restlichen Gesundheitszustand seines Patienten bestellt ist. Bestimmte Areale werden dabei bestimmten Organen zugeordnet und machen so gemeinsam mit den anderen erhobenen Befunden die Erhebung einer Verdachtsdiagnose möglich. Bei meiner Patientin lag die festgestellte Rötung ihres Zungenkörpers im Areal Herz bereits mit einem Übergang in die Region der Lunge. Neben der Rötung ließ sich auch eine Schwellung und Erwärmung der Zunge in diesem Bereich feststellen, Kardinalsymptome einer Entzündung. In Rücksprache mit der Patientin untersuchte ich sie mittels funktioneller Myodiagnostik noch weiter. Auch hierbei zeigte sich eine Problematik des Herzens und der Verdacht, dass sich Bakterien, die eventuell auch in Zusammenhang mit den beiden entfernten Zähnen gebracht werden können, dort angelagert hätten. Der nächste Schritt war für mich an dieser Stelle klar. Natürlich könnte ich jetzt naturkundlich Medikamente und Nahrungsergänzungsmittel verschreiben, die das Herz unterstützen. Trotzdem ist selbstverständlich, dass, wenn sich in meiner Untersuchung die Verdachtsdiagnose eines Problems am Herzen, eventuell einer Entzündung, darstellt, ich auf einer schulmedizinischen Abklärung bestehe. Mit meiner sehr gezielten Verdachtsdiagnose war es auch leicht möglich, bei einem auf Kardiologie spezialisierten Kollegen zeitnah einen Termin für meine Patientin zu vereinbaren. Der Verdacht konnte vom Kardiologen leider bestätigt werden. Bei der Patientin zeigten sich deutliche Anzeichen einer verschleppten Myokarditis. Als die Patientin ganz am Anfang ihre verringerte Leistungsfähigkeit bemerkte und der Hausarzt eine Blutuntersuchung vornahm, waren noch keine Korrelate in den Laborergebnissen sichtbar. Deshalb war auch keine weitere Diagnostik erfolgt. Jetzt, mit der richtigen Diagnose, konnte die Patientin einer adäquaten Behandlung mit strenger Bettruhe und Antibiotikagabe zugeführt werden. Gleichzeitig hatte der Fachkollege nicht nur keine Einwände, dass wir begleitend Naturheilkundlichen das System unterstützten, er war vielmehr so begeistert von der Möglichkeit der Diagnostik über die Zunge, dass er sich gleich für meinen nächsten Zungendiagnostikkurs vormerken ließ und den Therapieverlauf der Patientin fotografisch dokumentieren möchte. Seine Grundeinstellung deckte sich da sehr mit meiner: „Wer hilft und heilt, hat recht, und dafür lässt sich doch alles harmonisch kombinieren.“

Dr. EVA MEIERHÖFER
FA für Oralchirurgie
Klagenfurt
praxis@meierhoefer.at