Fallbeispiel - Kieferorthopädie in der Praxis

Im Jahr 2015 wurden in Österreich der IOTN (index of orthodontic treatment need) zur Klassifizierung von Zahn und Kieferfehlstellungen und der PAR-Index zur Beurteilung des Behandlungserfolgs eingeführt. Diese beiden Indizes sind seither in der Kieferorthopädie in Verwendung.

Mit dem IOTN sollen jene Patienten eindeutig identifiziert werden, die nach dem gleichzeitig neu beschlossenen kieferorthopädischen Vertrag Anspruch auf eine Behandlung mit der E-Card haben. Mit Hilfe des PAR-Index soll überprüft werden können, ob das für die Kostenerstattung vertraglich vereinbarte Behandlungsziel auch erreicht wurde. Konkret sieht die neue Regelung vor, dass Patienten mit einer kieferorthopädischen Diagnose, die nach dem IOTN einen hohen (Grad 4) bzw. sehr hohen (Grad 5) Behandlungsbedarf haben, Anspruch auf eine Multibracketbehandlung als Kassenleistung haben. Die Leistung wird gewährt, wenn mit dieser Therapie nach dem PAR-Index eine mindestens 70%ige Verbesserung der Fehlstellung erreicht wurde.
Unberücksichtigt blieb, dass das Vorliegen einer kieferorthopädischen Diagnose mit einem IOTN Grad 4 oder Grad 5 nicht zwangsläufig bedeutet, dass eine Multibracketbehandlung die richtige Therapie der Wahl ist. Was dieses Versäumnis für die Praxis bedeutet, möchte ich anhand eines Fallbeispiels erörtern.

Fallbericht

Die klinischen Bilder des Patienten zeigen, dass im Schlussbiss nur die linken Frontzähne Okklusionskontakte hatten und im Seitenzahnbereich ein offener Biss und ein gestörter Durchbruch der Seitenzähne vorlag. Ein gleichzeitig angefertigtes Panoramaröntgenbild bestätigte die hier vorliegende kieferorthopädische Diagnose. Es handelte sich um die schwere Form einer primären Durchbruchsstörung, also um Zahnfehlstellungen mit sehr hohem Behandlungsbedarf. Auch wenn Krankheitsbilder wie dieses in der Bevölkerung selten sind – die Betroffenen kommen zur Therapie gezielt in unsere kieferorthopädischen Praxen. Als Kieferorthopäden müssen wir diese Patienten, die zur Therapie nicht nur die Orthodontie alleine, sondern ein umfassendes interdisziplinäres Vorgehen benötigen, primär aufklären, dass zwar ein Anspruch auf eine kostenfreie kieferorthopädische Behandlung besteht, dass die orthodontischen Zahnbewegungen aber zu keiner gesicherten Okklusion führen und dass der erreichte Erfolg einer nötigen kieferorthopädischen Maßnahme mit dem geforderten PAR-Index nicht gemessen und somit laut Anforderung nicht nachgewiesen werden kann. Schließlich sind für den Therapieerfolg chirurgische und prothetische Maßnahmen zwingend erforderlich. Diese sind allerdings privat zu bezahlen. Sollte nun der Patient trotzdem einer Behandlung zustimmen, muss ihm ein in einer interdisziplinären Zusammenschau erarbeiteter Behandlungsplan vorgelegt und erklärt werden.
Im Falle meines Patienten war vorgesehen, dass die Kieferorthopädie die Neigung der Frontzähne korrigiert und postoperativ das Ergebnis der orthognathen Chirurgie stabilisiert. Die nicht durchgebrochenen Zähne sollten chirurgisch entfernt und das Gebiss schließlich mit Implantaten und prothetisch versorgt werden. Viele Gespräche waren notwendig, bis der Patient dem Behandlungsvorschlag zustimmte. Die Behandlung erfolgte in interdisziplinärer Zusammenarbeit mit Prof. Dr. W. Millesi. Die prothetische Versorgung wurde vom Hauszahnarzt MR. Dr. A. Trost durchgeführt. Die anfallenden Kosten haben die Eltern übernommen. Nach Abschluss der Behandlung bedankte sich mein Patient und meinte: „Auch wenn ich nicht verstehen kann, warum schwere Fehlstelllungen, wie sie in meinem Fall vorlagen, im Kassenvertrag nicht berücksichtigt wurden, ich bin trotzdem sehr glücklich. Zum ersten Mal weiß ich, wie es ist, wenn man richtig beißen und kauen kann.“

MR Dr. Doris Haberler

niedergelassene Kieferorthopädin in Wien
office@dr-haberler.at




Bilderserie zum Fallbeispiel:

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