Fallbericht: Kieferorthopädie in der Praxis

Nach der Angle´-schen Klasseneinteilung besteht bei einer Klasse-II/1-Verzahnung eine Distalokklusion im Molarenbereich bei vergrößerter  horizontaler Frontzahnstufe und proklinierter oberer Front.

Diese Fehlstellung kommt in der Bevölkerung häufig vor, was auch durch eine Studie von Vyslozil und Jonke bestätigt wurde, die eine Verbreitung in Österreich von 34% angibt. Für die kieferorthopädische Behandlung der Klasse-II/1-Malokklusion gibt es kein „Kochbuchrezept". Man kann im Gegenteil aus einer großen Anzahl verschiedener Apparaturen wählen.
Die Praxis zeigt, dass es nicht entscheidend ist, ob festsitzende oder herausnehmbare Geräte verwendet werden, sondern welches Behandlungsziel angestrebt wird. Will man zum Beispiel einen adoleszenten Patienten behandeln, bei dem zusätzlich der Unterkiefer zu klein ist und im Gesicht zu weit zurückliegt, steht man vor der schwierigen Entscheidung, ob wachstumssteigernde Maßnahmen ausreichen werden oder ob man zur orthognathen Chirurgie raten soll.
Dazu möchte ich als Fallbeispiel ein Mädchen mit einer vollen Klasse II/1 und Tiefbiss vorstellen, das genau elf Jahre alt war, als es zur kieferorthopädischen Behandlung meiner Ordination zugewiesen wurde. Die Unterkieferrücklage war klinisch gut zu diagnostizieren. Der Overjet war trotz kompensatorisch protrudierter unterer Frontzähne groß, und der Lippenschluss war inkompetent.
Ein erwachsener Patient mit dieser Diagnose ist eindeutig ein Fall für die orthognathe Chirurgie. Dabei ist es wichtig, vorher die Achsenneigung der unteren Frontzähne zu korrigieren, damit die Mandibula ausreichend weit nach vorne eingestellt werden kann.
Wie behandle ich aber dieses kleine Mädchen richtig, das nach Meinung der Eltern rechtzeitig in meine Ordination kam, um der Tochter eine spätere Kieferoperation zu ersparen?
Die Therapie muss primär gewährleisten, dass das mandibuläre Wachstum ausreichend gesteigert wird. Da die Reagibilität der Kondylen auf  wachstumssteigernde Reize im puberalen Wachstumsschub am größten ist, ist es in Grenzfällen wie diesem vorteilhaft, das Wachstumsmaximum des Unterkiefers möglichst präzise voraussagen zu können.
Die Patientin befand sich im späten dentalen Wechselgebiss. Weil sich in dieser Phase ein Viertel der Kinder noch im präpuberalen Wachstumsschub befindet und bei mehr als einem Drittel der Kinder der Hauptwachstumsschub erst im frühen bleibenden Gebiss beginnt, wählte ich die  CVM-Methode (Cervical Vertebral Maturation) nach Baccetti, um anhand der Halswirbelkörper am seitlichen Fernröntgenbild das skelettale Alter zu beurteilen.
Nach Baccetti und Franchi gibt es einen Zusammenhang zwischen anatomischen Veränderungen an den Wirbeln C2, C3, C4 und dem Wachstumsmuster des Unterkiefers. Dementsprechend befand sich meine Patientin zu Beginn der Behandlung im Stadium CS3 von sechs möglichen zervikalen Wirbelstadien und somit gerade am Beginn des Hauptwachstumsschubs.
Weil ich das Wachstumspotenzial des Unterkiefers maximal nützen und eine weitere Protrusion der unteren Frontzähne möglichst gering halten wollte, startete ich die Behandlung mit der TwinBlock-Apparatur nach Bill Clark.
„Mit dieser Maßnahme kann der Unterkiefer nachwachsen. Es dauert etwa ein Jahr, um von der Klasse-II-Situation zu einer Klasse I zu gelangen. Die Doppelplatten müssen in dieser Zeit nicht nur nachts, sondern auch tagsüber getragen werden", erklärte ich den Eltern und informierte sie weiters über die Wichtigkeit der Mitarbeit. 15 Monate später endete die Phase-1-Behandlung.
Eine neu angefertigte Zahnspange wurde anschließend noch eine Zeitlang nachts zur Retention getragen.
Die Fernröntgenbilder, die ich zur Verlaufskontrolle zu Beginn und am Ende der funktionellen Behandlung im Alter von 11 und 12,3 Jahren, sowie am Beginn der Phase-2-Behandlung mit festsitzenden Geräten und Klasse-II-Elastics zur Feineinstellung der Okklusion im Alter von  14,5 Jahren anfertigte, zeigten, dass  die skelettalen Veränderungen während des Hauptwachstumsschubs  im ersten Behandlungsjahr erreicht worden waren. Die 15 Monate dauernde Multibracketbehandlung führte lediglich zu einer Protrusion der unteren Front, aber zu keiner weiteren skelettalen Verbesserung.
Schließlich konnte das festgelegte Behandlungsziel erreicht werden, nicht zuletzt wegen dem sorgfältig bestimmten Zeitpunkt für den Beginn der orthopädischen Maßnahmen und  einem angemessenen Zeitaufwand, der die Mitarbeitsbereitschaft der Patientin nicht überforderte.
Dass das Ergebnis den strengen objektiven Anforderungen an die Ästhetik und die Okklusion nicht standhält, kümmerte die Patientin wenig.

Prima Dr. Doris Haberler

Abb. 1 bis 4: