Fallbericht: Kieferorthopädie in der Praxis

Erinnern Sie sich noch an die Zeit, bevor die selbstligierenden Bracketsysteme den österreichischen Markt eroberten?

Damals diskutierte man darüber, ob die kieferorthopädischen Aufgaben mit der „durchgehenden Bogentechnik" oder besser mit der „segmentierten Bogentechnik" zu lösen sind. Letztere versuchte man eher zu vermeiden, da diese die Kunst des Biegens, Lötens und Schweißens sowie eine gute Kenntnis der Biomechanik erforderte.
Mit der Verwendung selbstligierender Brackets in Kombination mit der dazu passenden Drahtbogenfolge hat die Segmentbogentechnik scheinbar an Bedeutung verloren. Die anspruchsvolle Interaktion zwischen Bracket und Draht ermöglicht gewünschte Zahnbewegungen und minimiert Verankerungsprobleme. Das Behandlungsziel kann in kurzer Zeit erreicht werden, ohne dass ein Biegen von Drähten nötig ist. Die Attachments, Bögen und Hilfsmittel, die dafür in den kieferorthopädischen Materialkatalogen für die routinemäßige Verwendung angebotenen werden, helfen zusätzlich auch, das Praxisleben ergonomisch zu gestalten. Für spezielle klinische Situationen, die gezielte Zahnbewegungen mit überschaubaren Kraftsystemen erfordern, sind sie jedoch nicht ausgerichtet. Dafür benötigt man  unabhängig vom verwendeten Bracketsystem nach wie vor Segmentbögen.
Als Beispiel möchte ich dazu einen Patienten vorstellen, bei dem gekippte zweite Molaren vor einer prothetischen Versorgung aufgerichtet werden sollten - eine Maßnahme, die in der Praxis häufig durchgeführt werden muss.
Bei diesem Fall waren, da die unteren Sechser schon lange fehlten, die Antagonisten erheblich in die Lücke übereruptiert. Es zeigten sich weiters eine bukkale Nonokklusion bei 14 und 24 und ein breites medianes Disthem in der oberen Front (Abb. 1a und b).
Die kieferorthopädische Behandlung erfolgte anfangs mit durchgehenden Bögen, die im Oberkiefer von 17-27 reichten und im Unterkiefer distal der 2. Praemolaren endeten. Damit konnten alle Aufgaben gelöst werden; auch die Intrusion der oberen Sechser war wegen der brachiofacialen Mandibula und des tiefen Bisses des Patienten ohne Hilfe von Minischrauben möglich (Abb. 2a und b).
Für die Aufrichtung der gekippten unteren Molaren benötigte ich aber Segmentbögen, um eine unerwünschte extrudierende Kraftkomponente zu vermeiden, und wählte die  NiTi-SE-Aufrichtefedern der Fa. Forestadent (Abb. 3a und b).
Es handelt sich dabei um einen vorgefertigten Teilbogen, der aus einem superelastischen Material im Molarenröhrchen mit einer Tip-back-Abwinkelung von 15° besteht, das mit einer Klemmverbindung mit einem Stahldraht verbunden ist. Das Stahlteil wird abgewinkelt und in ein Kreuzröhrchen geschoben, welches am Stabilisierungsdraht des anterioren Zahnsegments zwischen den unteren Praemolaren festgeklemmt ist (Abb. 4).
Ist die eingegebene Biegung der Aufrichtfeder im Bereich des Kreuzröhrchens gleich der Kippung des Molaren +15° Tip-back, entstehen keine vertikalen Kräfte und es wirken lediglich die aufrichtenden Drehmomente.
Bei meinen Patienten eigneten sich diese vorgefertigten NiTI-SE-Federn hervorragend für die Aufrichtung der Molaren. Ich musste für die gewünschten Bewegungen der Siebener die Drähte weder schweißen noch biegen. Die genauen Aktivierungen waren einfach und die Federn auf jeder Seite problemlos einzusetzen. Wegen ihres Verlaufs entlang der Gingiva verursachten sie  keine Irritationen an der Wangenschleimhaut, sie wurden nicht verbogen und sie mussten über die gesamte Wirkungsperiode nicht nachaktiviert werden.

Als ich dem Patienten am Ende der Behandlung die Brackets vor der prothetischen Versorgung schließlich entfernte, (Abb. 5a und b), sagte ich den Lehrern der Segmentbogentechnik eine herzliches Dankeschön.

Prim. Dr. Doris Haberler

 

Abb. 1a und 1b: Die unteren Sechser fehlten schon lange, die Antago-
nisten waren erheblich in die Lücke übereruptiert. Es zeigte sich eine
bukkale Nonokklusion bei 14 und 24 und ein breites medianes Disthem
in der oberen Front
Abb. 2a und 2b: Die kieferorthopädische Behandlung erfolgte anfangs
mit durchgehenden Bögen, die im Oberkiefer von 17-27 reichten und
im Unterkiefer distal der 2. Preamolaren endeten
Abb. 3a und 3b: Segmentbögen für die Aufrichtung, um eine
unerwünschte extrudierende Kraftkomponente zu vermeiden
Abb. 4: Das Prinzip der Segmentbogentechnik
Abb. 5a und 5b: Ein Dankeschön an die Lehrer der Segmentbogen-
technik