Komplexität - Zahntraumatologie, systemische Erkrankungen und KI

ZMT sprach mit Prof. DDr. Ulrike Kuchler, Fachbereich Orale Chirurgie und Wissenschaftliche Leiterin der Spezialambulanz Zahntraumatologie an der Universitätszahnklinik Wien.

Was gibt es Neues im Bereich der Zahntraumatologie?

Kuchler: Im Rahmen von wissenschaftlichen Auswertungen an der Universitätszahnklinik Wien erhalten wir im Rahmen von Diplomarbeiten immer wieder einen Überblick über die Arten der Zahntraumen und deren Behandlung. Wir wissen, dass bis zum Erwachsenenalter etwa 25% der Menschen ein Zahntrauma erleiden, was sich in den hohen Fallzahlen widerspiegelt. Z.B. haben wir erst unlängst eine wissenschaftliche Arbeit zu komplexen Schmelz-Dentin-Frakturen in der bleibenden Dentition abgeschlossen. War früher die Überkappung mit Kalziumhydroxid das Mittel der Wahl so können wir heute, durch die Pulpotomie nach Cvek und die Kombination mit MTA, auf weniger Entzündungsreaktionen und damit Überlebensraten von über 90% bei komplizierten Schmelz-Dentin-Frakturen verweisen. Ein weiterer Faktor ist eine gezielte Information der Eltern, was im Notfall zu tun ist. Hier möchte ich erwähnen, dass sich auf der Rückseite des Folders der Spezialambulanz Zahntraumatologie eine Kurzanleitung für das Verhalten im Notfall befindet. Wir bekommen immer wieder positives Feedback von Eltern, die sich für diese Informationen bedanken.

Was sind die Hauptursachen für Zahntraumen? Welche Altersgruppen sind am stärksten betroffen?

Kuchler: Bei der letzten Untersuchung waren zwei Drittel Buben im Alter zwischen 12 und 13 Jahren. In 70 Prozent der Fälle waren die Schneidezähne im Oberkiefer betroffen. Diese Zahlen liegen in der internationalen Norm. Bei Erwachsenen spielen die Freizeitaktivitäten – insbesondere Fahrradunfälle – eine wichtige Rolle. Übrigens mussten wir feststellen, dass rund 10 Prozent der Kinder über 8 Jahre keinen Tetanusschutz mehr hatten, weil die Auffrischungsimpfung seitens der Eltern vergessen wurde. Daher sollte man hier immer bezüglich des Tetanusschutzes nachfragen.

Sie beschäftigen sich ja auch sehr intensiv mit systemischen Erkrankungen und Knochenheilung – welche systemischen Risiken für Implantate kennt man heute?

Kuchler: Zu diesem Thema wissen wir heute dank interdisziplinärer Forschung immer mehr, etwa bei der Osteoporose. Der gestörte osteoporotische Knochenumbau hat auch einen Einfluss auf den Kieferknochen, wobei hier die Fraktur nicht im Vordergrund steht. Osteoporotische Veränderungen können sich negativ auf die Implantatstabilität auswirken (z.B. vergleichsweise geringe Stabilitätswerte in der frühen Phase). Bei Patienten/Patientinnen, die Bisphosphonate zur Osteoporosetherapie erhalten, sagen Leitlinien, dass oralchirurgische Eingriffe und das Setzen von Implantaten möglich sind – es müssen aber entsprechende zeitliche Abstände zur Medikamentengabe eingehalten und die Patienten über die Möglichkeit einer Osteonekrose (liegt nach invasiven Eingriffen bei ca. ein Prozent), aufgeklärt werden. Ich freue mich persönlich sehr über die Zusammenarbeit mit der Österreichischen Gesellschaft für Knochen- und Mineralstoffwechsel, wo ich mit Reinhard Gruber am Kapitel „Osteoporose und Zahnmedizin“ in den eben erst publizierten Leitlinien mitgewirkt habe.

Wie sehen Ihre Erfahrungen mit dem Einsatz von AI in der Zahnmedizin aus?

Kuchler: Im Jahr 2019 ergab sich an der MedUniWien die Möglichkeit, zum Thema KI zu forschen. Mein damaliger PhD-Student Balazs Feher war von Anfang an Feuer und Flamme. Wir starteten eine Zusammenarbeit im Rahmen der Zystendiagnostik mit Prof. Ralf Schwendicke (damals in Berlin), der ein führender Experte im Bereich der KI in der Zahnmedizin ist. Wir waren bei der ITU (Int. Telecommunication Union)/WHO/World Intellectual Property Organization (WIPO) Global Initiative on Artificial Intelligence for Health (GI-AI4H) in der Topic Group Dentistry, Subtopic Oral Surgery bereits in den Anfängen mit dabei. Im Jahr 2023 wurde diese erfolgreiche Initiative in ein globales Netzwerk übergeführt. Was in den letzten Jahren im Bereich der KI und der zahnmedizinischen. Diagnostik und Planung entstanden ist, ist beeindruckend und absolut zukunftsweisend. Wie wichtig die Etablierung der KI ist zeigt die Implementierung des neuen Competence Centers Artificial Intelligence unter der Leitung von PD Benedikt Sagl. Die AI generell kommt heute in der Zahnmedizin in der Röntgendiagnostik, bei Scannern, Softwareprogrammen und anderen Praxislösungen zum Einsatz. In der Kieferorthopädie (z.B. in der Fernröntgenanalyse) sind viele KI- Systeme bereits im Einsatz. Auch die die KI-gestützte Therapieplanung ist bereits angekommen. So schlägt in so mancher Implantatplanungssoftware bereits die KI die Implantatposition vor. KI wird den Zahnarzt/die Zahnärztin nicht ersetzen, jedoch unterstützen. Automatische Diagnostik und Therapieplanung bedeuten nicht nur Zeitersparnis, sondern auch eine systematische Aufarbeitung und die Minimierung menschlicher Fehler. So analysiert die KI das gesamte Röntgenbild und zeigt alle Pathologien, in einem histologischen Bild werden alle „fragwürdigen Stellen“ aufgezeigt. Insgesamt sehe ich eine interessante Zukunft, die vor uns liegt.

Gibt es noch einen Punkt, der Ihnen besonders wichtig ist?

Kuchler: Ich denke, man sieht anhand unseres Gesprächs, wie breit und bunt die Zahnmedizin aufgestellt ist und wie herausfordernd es selbst für uns etablierte Zahnärztinnen/-ärzte ist, Neuerungen in unseren Alltag zu übernehmen. Neue Technologien führen die Zahnheilkunde in eine immer komplexere Richtung und ergänzen manuelle Grundfertigkeiten. Weiters lernen wir heute immer mehr über systemische Erkrankungen und deren Auswirkungen in der Zahnmedizin. Das „Feintuning“ unserer Arbeit an Hart- und Weichgewebe wird sicherlich mehr von diesen Faktoren beeinflusst, als es uns bewusst ist. Hier ist es für mich persönlich wichtig über den „Tellerrand“ zu schauen. Und es sollte einem immer bewusst sein: Wir gestalten hier die Zukunft der Zahnmedizin mit.

Herzlichen Dank für das Interview!

Priv.-Doz. Dr. PETER WALLNER
Umweltmediziner und Medizinjournalist
peter.wallner4@gmail.com



Prof. DDr. Ulrike Kuchler