Fehlbissvarianten - Klasse 2 ist bei uns sehr häufig

Es gibt Studien über die Häufigkeit einer Fehlbissvariante in verschiedenen Gegenden. In unserer Region ist Klasse 2 mit Tiefbiss sehr häufig, in Ostdeutschland war ein kleiner Unterkiefer mit offenem Biss sehr verbreitet. Daher überrascht es nicht, dass die vielen abnehmbaren Geräte, die bei uns und in Deutschland entwickelt wurden, sehr ausgefeilte Varianten für Klasse 2-Therapie anboten.

Die ersten waren Monoblock und Aktivator. Die stellten den Unterkiefer vor und sollten die Kinder motivieren, in das Gerät reinzubeißen und so die Wirkung zu verstärken. Dabei sollte das Wachstum im Condylus gefördert werden. Ein Teil der Kinder hat die Spange aber immer wieder ausgespuckt. Dann kamen natürlich Überlegungen, ob eine Materialunverträglichkeit oder ein Fehler im Konstruktionsbiss vorlag – mit ein Grund, warum wir kinesiologische Testverfahren einbezogen haben. Dann haben Kollegen versucht, durch extremes Vorstellen oder sehr hohen Biss ein Ausspucken zu verhindern, leider erfolglos. Bessere Ergebnisse erzielte ein im Aktivator eingebauter Headgearbügel, der das Oberkieferwachstum bei Bedarf bremsen konnte und andernfalls nur mit so viel Druck eingestellt wurde, dass die Spange nicht einfach herausfällt. Der nächste Ansatz waren die genialen Erkenntnisse von Balthers und Fränkel: Eine Änderung des Muskelmusters führt zur Adaptierung der Knochen. Dabei hält man Muskel mit Schilden und Pelotten von den Zähnen ab, Vorstellen funktioniert nur in kleinen Schritten. Ein Fränkel-2-Gerät stellt den Unterkiefer nur 2mm vor, hat aber seitlich Schlitze zum Nachaktivieren. Viele von uns haben diese Erkenntnisse in den Aktivator übertragen, weil sie damit viel mehr Bewegungen auch einzelner Zähne erreichen konnten. Sanft und in mehreren Schritten aktiviert, blieben die Spangen im Mund und erzielten eine gute Zahnstellung und ansprechende Profile. Allerdings erforderte das auch die Herstellung mehrerer Spangen und damit mehr Kosten. Leider haben wir wenig gute Dokumentationen, ob es auch knöcherne Veränderungen gab. Einerseits wollten wir nicht zu viele Röntgenbilder bei noch wachsenden Kindern machen, andererseits sind viele Patienten einfach ausgeblieben, weil sie ohnehin schon zufrieden waren. Dr. Ingrid Rudzki, em. Prof. an der Kieferorthopädie der Ludwig-Maximilians-Universität München, hat als Klinikerin umfangreiche Vergleichsröntgen angefertigt und meint, dass wir in erster Linie Camouflage über die Zahnstellung erreicht haben. Die Zeit für ein Unterkieferwachstum wäre etwa zwischen 8 und 11 Jahren, also vor der heute üblichen festsitzenden Therapie. Diese Zeit könnte man nützen, um mit abnehmbaren Spangen oder einer ersten festsitzenden Phase (z.B. Klasse2-Elastics) möglichst viel Knochenwachstum zu erzielen. Auch hier gilt: wenig Kraft, aber Tragezeit immer, außer beim Essen und Putzen. Die disziplinierte Mitarbeit und lange Dauer sind auch das Problem bei diesen Methoden. Eine Schwierigkeit war stets, dass ohne Spange oder Elastics der Unterkiefer wieder nach hinten wandert und beim Essen die Zähne ebenfalls in die falsche Richtung gehen. Das passiert mit den Non-Compliance-Geräten nicht mehr, man muss sie aber lange genug lassen. Mit einer Herbst-Apparatur kann man oft in 1 bis 2 Monaten schon Klasse 1 erreichen, muss sie dann aber 9 Monate lassen, damit der Unterkiefer auch vorne bleibt. Sonst könnte man zwar schöne Ergebnisse bei der Bandabnahme vorweisen, aber kaum ist der Druck weg, geht der Unterkiefer wieder zurück. Die Vorschubapparaturen stellen direkt Klasse 1 ein, auch wenn es sich um eine volle Klasse 2 gehandelt hat. Ein paar Tage ist so ein Gerät immer unangenehm, vor allem die eingeschränkte Seitbewegung ist gewöhnungsbedürftig. Unsere jugendlichen Patienten kommen aber meist nach 2–3 Tagen gut damit zurecht. Ausspucken geht nicht, und die Federwirkung hält den Kiefer permanent vorne. Die Konsequenz ist eine rasche Muskelumstellung, die brutal wirkt, aber gut vertragen wird.

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Wie gehen wir beim Klasse-2-Patienten vor?


Oft sieht man schon bei der ersten Beratung durch Betrachten des Profils, wo eigentlich die Fehlstellung liegt. Es hilft auch, den Unterkiefer in Klasse 1 vorschieben zu lassen und dann nochmals das Profil zu studieren: Bei zu kleinem Unterkiefer wird das Profil schön, ist hingegen der Oberkiefer zu groß, wird es sehr protrusiv. Wenn eine starke Diskrepanz besteht, ist gleich ein Fernröntgen sinnvoll. Achtung: Dabei nicht vorschieben, einige Patienten kompensieren so relativ oft ihre Malokklusion! Ein wichtiges Kriterium sind stark sichtbare oder tastbare Frontzahnwurzeln unter der Schleimhaut über der Symphyse. Sind diese vorhanden, können die Zähne auch bei Umstellung des Muskelmusters nicht vorbewegt, sondern höchstens gekippt werden. Das ist aber instabil und gefährlich und somit eine Indikation für Chirurgie. Schon bei der Erstberatung sollten wir darauf verweisen, welche chirurgischen Möglichkeiten es heute gibt. Bei wirklich eindrucksvollen Fällen ist es sinnvoll, auf einer chirurgischen Beratung zu bestehen oder zumindest die Ablehnung zu dokumentieren. Wir Kieferorthopäden müssen immer im Hinterkopf haben, dass wir bei einem Jugendlichen den Unterkiefer nicht hervorholen können. Wir können Klasse 1 einstellen, meist auch das Profil durch die reziproke Wirkung auf das Oberkiefer verbessern, aber kein Kinn aufbauen. Der Chirurg kann das, und die Patienten sollten sich anhören, mit welchem Aufwand und Risiko. Kommt Chirurgie nicht in Frage, ist die Extraktion von zwei OberkieferPrämolaren ein meist guter Kompromiss, im Fall eines großen Oberkiefers sogar optimal, die Konvexität geht mit zurück.

Dr. AGNES WOLF
Dr. EVA MARIA HÖLLER