Kieferorthopädie in Zeiten der Gratiszahnspange: Festsitzende Zahnspange & Chirurgie

Doch, es gibt die kombinierte Methode schon lange! Schon als ich vor 38 Jahren mit der Kieferorthopädie begonnen habe wurden Osteotomieoperationen erfolgreich durchgeführt.

Allerdings war vieles noch eher improvisiert und ich erinnere mich mit Schrecken an die vielen Gipsmodelle, die die Patienten nach einigen Stunden abholen und sowohl zum Kieferorthopäden als auch zum Chirurgen mitnehmen mussten. Aber damals wie heute muss der frisch verplattete Kiefer über die Okklusion stabilisiert werden – und da ist essenziell, dass Ober- und Unterkiefer nach der Operation perfekt zusammenpassen.
Im Idealfall fällt eine Diskrepanz der Knochenbasen schon beim etwa sechsjährigen Kind auf. Und heute ist es selbstverständlich, dass wir schon einmal ein Fernröntgen anfertigen, um auch die weitere Wachstumstendenz beurteilen zu können. Wenn die Eltern das Problem verstehen und bereit sind, Zeit und Geld in abnehmbare Spangen zu stecken, zahlt sich ein Versuch der Verbesserung oft aus. Natürlich können wir nicht prinzipiell das Wachstum ändern, aber auch kleine Verbesserungen können reichen, dass ein guter kieferorthopädischer Kompromiss möglich ist oder die Operation weniger lange dauert, weniger Schmerzen verursacht und das Ergebnis stabiler wird.
Der zu kleine Kiefer wird verbreitert und mit Pelotten oder einer facial mask zum maximal möglichen Wachstum animiert. Gleichzeitig kann man den Unterkiefer mit einer Kinnkappe zum Highpull-Headgear bremsen. Als interzeptive Behandlung ist das nicht möglich, sondern es ist eine Behandlung über das Wachstum nötig, meist 3–4 Jahre lang. Das muss man natürlich auch von Anfang an besprechen. Wer lieber riskiert, dass eine spätere Operation umfangreicher ist, soll natürlich auch wissen, was das bedeutet. Kassenvertreter betonen gerne, dass diese Spangen, die derzeit in Ostösterreich nicht bezuschusst werden, ohnehin obsolet und wirkungslos seien. Frau Professor Rudzki hat eine Studie über viele Jahre vorgelegt, die zwar bestätigt, dass die skelettale Wirkung der abnehmbaren Spangen gering ist, die Profile und die Verzahnung der Patienten sind aber durchaus gut. Die erfahrene Kieferorthopädin meint, dass sie mit dieser Camouflage gut leben kann.
Ohne Fernröntgen geht ohnehin nichts mehr, und da sieht man schon frühzeitig, ob für die nötige Zahnbewegung einfach kein Knochen vorhanden ist. Bewegen wir die Zähne trotzdem, gibt es massive Rezessionen. Also: Bei Verdacht (aufgrund des Profils) schon bei der Beratung ein Fernröntgen machen. Auch wenn es zeitaufwändig ist: Wir müssen den Eltern erklären, wie weit wir mit einer Regulierung kommen und vor allem, was wünschenswert wäre und wir nicht können. Wir raten allen zu einer Beratung beim Chirurgen – die 100 bis 200 Euro für eine Beratung sind gut investiert, denn die Kieferchirurgen können zeigen, welche Möglichkeiten sie haben.
Wenn es ernst wird, ist die Reihenfolge: Planung beim Kieferorthopäden, dann vor Regulierungsbeginn Planung beim Chirurgen. Diese kostet 1.800,-, die Operation selbst bezahlt die Kasse. In digitalen Zeiten können wir einander die Planungen zumailen, dann wissen wir nicht nur, welche Knochenverschiebungen geplant sind, sondern auch welche Zahnbewegungen nötig sind und wann wir beginnen wollen. Bei Mädchen ist die Operation ab 16 möglich, weil dann kaum mehr Wachstum zu erwarten ist (kann außerdem mit Handröntgen abgeklärt werden). Bei Knaben – besonders mit Klasse-3 mit Schuld im Unterkiefer möglichst knapp vor dem 18. Geburtstag beginnen, da der Unterkiefer noch in den frühen Zwanzigern wachsen kann.
Manchmal machen wir in der ersten Regulierungsphase die Fehlstellung deutlich schlechter. Wichtig ist: Wenn der Chirurg den Unterkiefer zurücksetzt und den Oberkiefer verbreitert, vorsetzt und die Palatinalebene nach unten schwenkt, dann müssen die Zahnbögen zusammenpassen. Es bewährt sich, bereits in der ersten Phase myofunktionelle Übungen zu absolvieren, damit die Zunge sich nach der Operation besser zurechtfindet. Direkt vor der Operation wird ein sehr starrer Draht eingegliedert (19x25 StainlessSteel). Die gefürchteten Löthaken kann man vermeiden, wenn die Brackets bereits Haken haben. Mit den heutigen Klebern halten sie auch gut genug für intermaxilläre elastics in jeder Richtung. Oft machen die Chirurgieteams auch Schienen, wo jeder Zahn eine Delle hat und am Platz gehalten wird.

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Die Operation selbst ist keine Kleinigkeit. Es arbeiten zwei Teams am Patienten – gleichzeitig rechts und links. Und trotzdem dauert so eine Operation einige Stunden. Wenn man beide Kiefer in mehrere Richtungen korrigiert, werden ca. 9–10 Osteosyntheseplatten verschraubt, das sieht im Panoramaröntgen interessant aus. Früher hat man diese nach 1–2 Jahren wieder herausgeholt, das geht aber nicht so leicht. Da die Teile aber auch nicht stören, belässt man sie jetzt einfach.
Natürlich kann es Nebenwirkungen geben, diese liegen bei etwa 1%, meist handelt es sich um passagere Nervausfälle. Aber natürlich müssen die Chirurgen über alle möglicherweise dramatischen Folgen aufklären. 2–3 Wochen nach der Chirurgie sind Astronautenkost und Schonung angesagt. Natürlich gibt es in den ersten Tagen Schwellungen und Schmerzen, die man aber mit klassischen Entzündungshemmern behandeln kann. Nach 3–4 Wochen dürfen wir Kieferorthopäden auch wieder nachstellen. Bis die festsitzende Spange herunterkommt, vergeht noch mindestens ein halbes Jahr. Das enttäuscht die Patienten, in ihrer Vorstellung müsste es doch mit Operation schneller gehen. Trotzdem sind sie vom Ergebnis sehr angetan und erzählen, sie würden sich wieder für eine Operation entscheiden. Das motiviert uns wiederum, doch mehr Patienten zur chirurgischen Beratung zu schicken. Immer mehr Patienten wollen perfekt aussehen und nehmen den langen Weg und die überschaubaren Kosten auf sich.
Die Koordination mit den Chirurgen erfordert auch vom Kieferorthopäden mehr Engagement und Arbeit. Einige wollen das nicht, schicken stattdessen die Patienten etwa an die Zahnklinik. Wer einige Operationen begleitet hat, entwickelt allerdings auch Routineabläufe und freut sich an den schönen Ergebnissen. Und wer es genau wissen will: Es gibt auch Kurse, wo Chirurgen und Kieferorthopäden gemeinsam Fortbildung machen.

Dr. AGNES WOLF
Dr. EVA MARIA HÖLLER