Betrachtung - Gratiszahnspange aus ganzheitlicher Sicht

Als ich mit Zahnspangen begonnen habe, waren Physiotherapeuten, Osteopathen und Lerntherapeuten üblicherweise strikt gegen Zahnspangen, weil sie beobachtet haben, dass zahlreiche Beschwerden durch eine Zahnspange verstärkt wurden, besonders Bewegungskoordinations-
probleme.

Unbeachtet blieb dabei die Tatsache, dass ein Fehlbiss eine Dauerbelastung für die gesamte Körperhaltung ist und im Wachstum zu weiteren Störungen führt, etwa zu einer Skoliose.  Am Dr. Wilhelm Brenner Institut wurde dann unter Prim. Dr. Hangl eine Vielzahl an Methoden gelehrt und weiterentwickelt – und gleichzeitig komplementäre Testverfahren einbezogen. Die kinesiologischen Verfahren eröffneten die Möglichkeit, alle Schritte der Spangenanpassung und ihre Auswirkung auf den Körper unmittelbar zu überprüfen. Bei den Kids war auch mit orthopädischen Verfahren sichtbar, welche Chancen die geplante Therapie bot: Bereits der Konstruktionsbiss konnte (vorübergehend) einen Schulterschiefstand beseitigen oder eine reflektorische Beinlängendifferenz ausgleichen. Nach und nach schickten wir die Patienten mit Spange zur Kontrolle zum Osteopathen – und bekamen positive Resonanz auch auf scheinbar brutale Geräte wie Aktivator-Headgear.
Die abnehmbaren Zahnspangen waren zu einem großen Teil wirklich orthopädische Geräte. Durch die Bisslagenveränderung, aber auch durch Muskeltraining konnten wir das Wachstum beeinflussen, eine gute Knochenbasis schaffen und in vielen Fällen einen stabilen Biss erreichen. Dabei wurde die Gesamtentwicklung gefördert, die Atmung verbessert und oft Spannungsbeschwerden beseitigt.
Gut weg kamen auch Crozatgeräte, weil sie aus hochelastischen Drähten bestanden, aber sie erforderten sehr viel Disziplin und waren nur für ältere Jugendliche und Erwachsene geeignet. Die damals zur Verfügung stehenden fixen Zahnspangen waren problematisch: Wir hatten nur verschiedene Stahldrahtvarianten, anfangs getwistete, dann geflochtene, dann runde und schließlich sehr starre viereckige. Auch objektiv gesehen waren diese Apparaturen schmerzhaft, dauerten lange und lösten gelegentlich Wurzelresorptionen oder Parodontalprobleme aus.
Unsere Reaktion waren Segmentbogentechnik, Loops zwischen den Brackets und möglichst sanfte, lang anhaltende Kräfte. Der wirkliche Durchbruch waren die superelastischen Drähte, anfangs TMA, dann Nitinol – schnell, schmerzarm und meist unkompliziert. Bei Runddrähten sucht sich der Zahn den Weg durch den Knochen. Dieser Effekt wird noch stärker durch friktionsarme, selbstligierende Brackets.
Diese Zahnspangen testeten auch ganz anders – da alle Drähte hochflexibel und elastisch sind, kommt es zu keinen Blockaden des Kraniosakralsystems und meist können sich die Zähne gut zueinander einstellen (Settling). Lediglich in den Überstellungsphasen, wo es zu einem singulären Antagonismus kommt, ergibt sich kurzfristig eine Okklusionsstörung, etwa 3–6 Wochen lang. Die nächste Revolution betraf die Haltegeräte: Moderat eingestellte Aligner testen sehr gut und sind als komfortable Retentionsgeräte ausschleichend absetzbar.
Belastend sind die relativ wartungsfreien geklebten Retainer, weil sie das Settling behindern. Außerdem lösen sich immer wieder Einzelzähne aus dem Verbund und es kommt doch wieder zu Verschiebungen. Natürlich war auch vor der Gratiszahnspange nicht alles perfekt. Nicht alle Zahnspangen wurden hinreichend sorgfältig geplant, regelmäßig nachaktiviert und lange genug angewendet, um den Erfolg zu sichern. Und ebenso natürlich gab es einen Teil der Patienten, die nicht mitgearbeitet hat. Die Patientenanteile (je nach Kasse 20–50%) haben aber bewirkt, dass sich die Eltern doch überlegt haben, ob sie eine Spange wollen.
Wer eine fixe Spange gebraucht hat, musste allerdings viel investieren. Darüber waren weder die Kieferorthopäden noch die Kassen besonders glücklich, denn viele konnten sich so eine Spange nicht leisten und die Zuschussmöglichkeiten waren selbst für die Unterstützungsfonds begrenzt.
Grundsätzlich waren wir daher von der Idee einer leistbaren Zahnspange sehr angetan, und anfangs sollte ja nur die fixe Spange darunterfallen. Gerade die Kieferorthopäden wollten aber nicht zusehen, wie eine Fehlstellung ein normales Wachstum verhindert, wir hätten die Möglichkeit einer interzeptiven Behandlung zu schätzen gewusst.

Die Realität sieht leider ganz anders aus

Die über Jahrzehnte erfolgreiche abnehmbare Zahnspange wird praktisch nicht mehr bewilligt. Auch IOTN 3 beinhaltet schwere, folgenreiche Fehlbisse – diese werden aber seitens der Kassenvertreter entweder als unnötig bezeichnet oder in die interzeptive Behandlung gedrängt. Bei der Begutachtung werden die Zahnärzte massiv kritisiert und ihnen wird unterstellt, dass sie an der Zahnspange nur Geld verdienen wollen. Für die interzeptive Behandlung gibt es eine Einmalpauschale im Wert eines Behandlungsjahres. Mit abnehmbaren Methoden dauert eine Behandlung meist mindestens zwei Jahre, durch die hohen Technikkosten können wir uns das schlicht nicht leisten. Dazu kommt die stark gesunkene Bereitschaft zur Mitarbeit.

Konsequenz

Als IB werden im Regelfall nur mehr festsitzende (Teil-)Bebänderungen angeboten. Die sind relativ berechenbar und kostengünstig. Da die Qualifizierung bei der Kasse ja auch über 20 festsitzend behandelte Fälle erfolgen muss, erscheint das folgerichtig. Nach Beseitigung des Einstufungsmerkmals  wird die Behandlung beendet. Im Fall eines (durchaus häufigen Rezidives) kann nach Ablauf eines Jahres eine festsitzende Hauptbehandlung erfolgen.
Wer eine abnehmbare Zahnspange möchte, muss diese privat bezahlen und mindestens zwei Jahre einkalkulieren. Sollte er Anspruch auf eine IB haben, wird auf der Honorarnote vermerkt, dass diese angeboten wurde.
Nur wenige Patienten sind zu dieser Ausgabe bereit, es werden aber zunehmend mehr. Vielleicht finden sich dann auch streitbare Eltern, die ihre an sich bestehenden Ansprüche vor dem Sozialgericht einklagen wollen.

eine hübsche Zahnspange

Hochqualitative Regulierung

Die festsitzende Hauptbehandlung selbst wurde als hochqualitative Regulierung geplant. Es sollten modernste Methoden eingesetzt werden und keine Unterschiede zu einer privat finanzierten Spange gemacht werden – außer dass silberfarbene Brackets verwendet werden müssen. In der Realität gab es dann viele Hindernisse, die diesem Ziel entgegenstanden:
Die Zahl der Kieferorthopäden mit Vertrag wurde stark begrenzt. Das macht im Ballungsraum Wien Probleme, weil wir speziell in Bezirken mit großen Schulen zu wenig Planstellen haben. Es ist natürlich kein Zufall, dass sich dort viele Kollegen niedergelassen haben, viele Patienten wollen aber die 20% Selbstbehalt für den Wahlkieferorthopäden nicht investieren. Sie hätten zwar gerne den Termin Mittwoch um 16 Uhr 45 – und bitte ohne Wartezeit, aber natürlich gratis.
Die meisten Kollegen führen eine Einzelpraxis und wollen gleichmäßig gute Qualität erreichen – daraus ergeben sich Wartezeiten für Beratungen und Regulierungsbeginn. Wünsche wie einen sofortigen Termin wegen des bevorstehenden 18. Geburtstages können wir sieben Quartale nach Einführung der Gratiszahnspange nicht erfüllen.
Die Zahl der Gratiszahnspangen wurde von den Experten unterschätzt, weil einerseits die Auslegung des IOTN doch nicht so einheitlich ist (Kammer und Hauptverband arbeiten noch daran), andererseits wollen die Kassen möglichst viele Patienten in die Gratiszahnspange inkludieren und stufen willkürlich um. Dazu kommt speziell in Wien eine große Zahl an Asylsuchenden. Diese Jugendlichen wurden nicht vorbehandelt und haben oft wirklich schwere Fehlbildungen, die bei Kindern, die in unserem Sozialsystem aufgewachsen sind, durch Frühbehandlung verhindert wurden. Zusätzlich fehlen häufig schon Zähne, was eine zielführende Regulierung erschwert.
Die hohen Fallzahlen brachten mit sich, dass der Tarif (über die Korridorvereinbarung) nach dem ersten Jahr um ein Viertel gesenkt wurde. Dazu kommt ein überbordender Bürokratieaufwand. Natürlich ist ein Kontrollsystem nötig, das akzeptieren wir. Es werden aber viele Unterlagen verlangt, die hohe Investitionen und großen Zeitaufwand erfordern. Einige Kassen fordern vehement digitalisierte Modelle, andere können diese leider noch nicht verwerten. Wenn die Patienten nicht mitarbeiten, gibt es seitens der Kasse Ermahnungen an die Patienten, aber keine echten Konsequenzen. Die Kasse droht den Kids mit Behandlungsabbruch, verspricht aber, dass sie nach einem Jahr eine neue Gratiszahnspange bekommen. Kommt es wirklich zu einem Abbruch, geschieht das auf Kosten der Zahnärzte.
Diese Situation hat natürlich weitreichende Konsequenzen:
• Die ganze Zahnspange muss möglichst sicher und unabhängig vom Patienten geplant werden.
• Zahl und Dauer der Sitzungen und die Gesamtdauer der Behandlung müssen minimiert werden.
• Teure Materialien kommen nicht mehr infrage.
• Etliche Kollegen schicken schwierige Fälle an die Zahnklinik. Das ist etwa bei multiplen Aplasien oder Zahnverlagerungen durchaus gerechtfertigt, weil es dort Sonderverträge für chirurgische Eingriffe bis hin zu Implantaten gibt. Es sollte aber nicht bei jedem verlagerten Zahn der Fall sein.
• Die Zahl der Extraktionen ist sprunghaft angestiegen – zum Teil durch mangelnde Vorbehandlung, meist aber weil der Lückenschluss durch Loops nicht von der Mitarbeit abhängt. Leider wird mittlerweile in vielen Fällen einfach der erste Prämolar extrahiert, auch wenn bereits ein wurzelbehandelter Molar vorhanden ist – das geht einfacher und schneller. Früher konnten wir mit den Patienten vereinbaren, dass wir bei guter Mitarbeit eine Variante ohne Extraktion wählen können. Da ein Misserfolg zu unseren Lasten geht, können wir uns das nicht mehr leisten.
• Es gibt mehr Fälle, die eine Operation benötigen würden. Diese wird zwar großteils von der Kasse bezahlt (außer der chirurgischen Planung), birgt aber ein Risiko (etwa 1%), verursacht Narben und es bleiben Platten und Schrauben im Kiefer. Ein erheblicher Teil hätte durch (allerdings jahrelange) Vorbehandlung verhindert werden können. Gerade diese Vorbehandlung ist mittlerweile ein Luxus geworden.

Complianceverwarnungen

Sorgen macht uns noch die Retention. Wir versuchen, die Spangen einige Monate zum Stabilisieren zu belassen, das ist aber bei mangelnder Pflege gefährlich. Andererseits bezweifeln wir, dass die Tragedisziplin für Aligner ausreicht. Und sollten die Herrschaften plötzlich nicht mehr auftauchen (etwa ein paar Monate in der Türkei verschwinden) – wer trägt dann die Kosten? Es wird ja auch bei Complianceverwarnungen kontrolliert, wie oft „gesteckt“ wurde. Allerdings sind die Kids oft weder telefonisch erreichbar noch werden Einschreibbriefe behoben. Die sozialistische Idee, dass für alle Jugendlichen mit schweren Fehlstellungen eine topmoderne Zahnspange gemacht werden soll, hat sich als nicht wirklich realistisch erwiesen. Die Zukunft sieht vielmehr so aus, dass eine kostenfreie Kassenzahnspange angeboten werden muss. Wer jedoch eigene Vorstellungen einbringen will oder wessen Kind sanftere Methoden braucht, der wird in den Privatbereich gedrängt und es wird auch ein Großteil der Zuschüsse verwehrt.

MR Dr. EVA-MARIA HÖLLER
Zahnärztin und
Kieferorthopädin in Wien
Schwerpunkt:
Komplementärverfahren
Gerichtlich beeidete Sachverständige
mit Zusatzbezeichnungen
Kieferorthopädie und
Komplementärverfahren
ordi.hoeller@aon.at

...oder eine fixe Regulierung