Fallbeispiel - Kieferorthopädie in der Praxis

Zu der Frage, wie lange eine kieferorthopädische Behandlung dauern sollte, gibt es je nach Betrachtungsweise unterschiedliche Meinungen. Patienten hoffen auf ein möglichst rasches Behandlungsende. Gesundheitsökonomen meinen, dass eine durchschnittliche Behandlung mit der fixen Gratiszahnspange drei Jahre dauert. Dem entsprechend wird sie von den Krankenkassen in drei Teilen honoriert.

Der erste Teilbetrag wird mit Eingliederung der Apparatur ausbezahlt. Der zweite Teilbetrag ist für das 2. Behandlungsjahr, und der dritte Teilbetrag ist für die Abnahme der Brackets und für die Übergabe eines geeigneten Retentionsgerätes vorgesehen. Zusätzlich ist für einzelne genau definierte Fehlstellungen im frühen Wechselgebiss eine interzeptive Gratisbehandlung vorgesehen. Das ist eine kurze, wenige Monate dauernde apparative Maßnahme, mit der ein konkret definiertes Behandlungsziel erreicht werden soll.
Experten auf dem Gebiet der Kieferorthopädie warnen allerdings vor solchen Richtlinien. Es wird dabei nämlich der wichtige präventive Aspekt einer KFO-Therapie übergangen und auch die Erkenntnis, dass Zähne ihr Leben lang wandern können, wenn sie nicht daran gehindert werden – mit vielfältigen ungünstigen Folgen – wird ignoriert. Welche Auswirkungen das für die Praxis haben kann möchte ich anhand eines Fallbeispiels diskutieren.

Fallbeispiel:

Der Bub kam im Alter von acht Jahren mit seiner Mutter in unsere Ordination. „Mein Kind wird in der Schule wegen seiner Hasenzähne gehänselt“ meinte die Mutter. Deshalb wünschte sie eine Regulierung seiner Zähne. Die klinische Untersuchung zeigte zusätzlich zur psychischen Komponente noch zahlreiche andere Probleme mit hohem Behandlungsbedarf, wie eine große Frontzahnstufe , eine Abweichung der unteren Zahnmitte nach links und einen damit verbunden Verlust der Stützzone im linken unteren Quadranten als okklusalen Befund, weiters gestörte orale Funktionen und eine schwere Form einer Gingivitis.
Nach dem neuen kieferorthopädischen Vertrag hätte der Patient heute Anspruch auf die so genannte interzeptive Behandlung als Kassenleistung. Auch ich habe eine abnehmbare Zahnspange gewählt und die Frontzahnstufe konnte innerhalb von sechs Monaten, also mit 8,6 Jahren ausreichend korrigiert werden. Damit waren die ästhetischen und die funktionellen Parameter zufriedenstellend verbessert.
Diese abnehmbare Apparatur hat mein Patient bis zum Ende des Zahnwechsels nachts getragen um das Ergebnis zu stabilisieren. Bei den in dieser Zeit nötigen regelmäßigen Kontrollterminen habe ich die Passgenauigkeit des Gerätes kontrolliert und bei Bedarf an die sich ständig verändernde Gebisssituation angepasst. Das, sowie Verhaltungsempfehlungen und Mundhygieneinstruktionen hatten einen Einfluss auf eine positive Entwicklung des Gebisses und leisteten einen wichtigen Beitrag zur Mundgesundheit. Da es zu diesem Zeitpunkt den neuen Kieferorthopädievertrag noch nicht gab, ist mir eine Antwort auf die Frage der Eltern, warum ihnen für diese Leistungen, sollten sie wirklich notwendig sein, im Zuge der Gratiszahnspange Kosten entstehen, erspart geblieben. Mit 9,7 Jahren befand sich der Patient im späten Wechselgebiss. Der Platzverlust und die große Kontaktpunktverschiebung bei 33 rechtfertigt heute mit dem IOTN 4 eine Hauptbehandlung als Vertragsleistung. Auch ich habe nun eine Multibracketbehandlung gestartet, die nach einer aktiven Behandlungszeit von einem Jahr und drei Monaten abgeschlossen war. Wegen der noch immer mangelhaften Mundhygiene habe ich auf einen fixen Retainer verzichtet und abnehmbare Retentionsgräte eingesetzt. Sowie bei allen meinen Patienten kontrollierte ich das Ergebnis im ersten Retentionsjahr regelmäßig, und in der Folge zweimal jährlich. Zu diesen Terminen erhalten die Patienten auch weiter Anweisung zu Retention und Verhaltensempfehlungen. Der Patient war bereits 15 Jahre alt, als er anlässlich eines solchen Kontrolltermin berichtete, er habe die Zahnspange verloren und trage sie deshalb schon mehrere Monate nicht. Ich diagnostizierte ein leichtes Rezidiv und empfahl als Gegenmaßnahme ein neues Gerät. Diesmal meldete sich der Vater zu Wort. Er habe sich an kompetenter Stelle erkundigt, erklärte er mir, und man habe in informiert, dass so eine lange kieferorthopädische Behandlung unüblich wäre. Außerdem kenne er niemanden, der mit 15 Jahren noch eine lose Zahnspange trägt. Somit beendete er die Behandlung. Weitere Termine wurden nicht vereinbart. Mit 19,7 Jahren kam mein Patient erneut in der Ordination. Er fühlte sich beeinträchtigt, weil sich die Zahnstellung stark verschlechtert hatte.
Die ebenfalls anwesende Mutter bedauerte, dass sie damals nicht mir, sondern jenen, die den Sohn und seine okklusale Situation gar nicht kannten, das Vertrauen geschenkt hatte. Eine neuerliche Behandlung würde nun wesentlich teurer und aufwändiger sein.

Haberler

MR Dr. DORIS HABERLER
niedergelassene
Kieferorthopädin in Wien
office@dr-haberler.at

Bilderserie zum Fallbeispiel:

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