Teil 1: Immunsuppressive Therapien - Immunsystem und orale Gesundheit

Die menschliche Mundhöhle ist ein Biotop für zahlreiche individuell variable Kollektive von Mikroorganismen. Sie alle stehen in enger Beziehung zu den oralen Geweben. Verschiebungen innerhalb dieses biologischen Gleichgewichts führen erfahrungsgemäß zu entzündlichen Erkrankungen wie Gingivitis, Parodontitis, Stomatitis und Karies.

Die entscheidende Regulative der Interaktion zwischen der Residentflora und den körpereigenen Strukturen ist unser Immunsystem. Komponenten der spezifischen und unspezifischen Abwehr verhindern ungehemmtes mikrobielles Wachstum und erhalten die orale Gesundheit. Eine zentrale Position kommt der zellulären Abwehr mit den neutrophilen Granulozyten und den Makrophagen zu, welche potenziell pathogene Keime über Phagozytose eliminieren. Die lokale und systemische Entzündungsreaktion wird über Botenstoffe wie Interleukine geregelt. Sie wirken auf Wachstum, Teilung und Differenzierung der Abwehrzellen. Antikörper sind ebenfalls Bestandteil der humoralen Abwehr. Sie können Erreger entweder direkt neutralisieren, das Komplementsystem aktivieren oder die Antigene durch Opsonierung der zellulären Phagozytose zugänglich machen. Für eine funktionierende Abwehr ist ein adäquates situationsbedingtes Reaktionsvermögen des Immunsystems notwendig. Eine zu geringe oder insuffiziente Reaktion ist ebenso kontraproduktiv wie eine überschießende Immunantwort. Beide Fehlfunktionen führen zu Entzündung und Gewebeabbau. Exo- und endogene Störfaktoren können die Stabilität der Immunabwehr wesentlich beeinträchtigen. Dazu gehören genetisch bedingte oder erworbene Defekte der körpereigenen Abwehr ebenso wie systemische und haematopoetische Erkrankungen.

Vermehrte Gaben von Immunsuppressiva schaffen neue zahnmedizinische Probleme

Bei einer Reihe von Grunderkrankungen müssen immunsupprimierende Medikamente zur Therapie eingesetzt werden. In der Transplantationsmedizin wird Ciclosporin-A eingesetzt, um Abstoßungsreaktionen zu verhindern. Aber auch bei chronisch entzündlichen Erkrankungen wie Morbus Crohn oder dem Formenkreis rheumatischer Erkrankungen, bei Allergien, Polymyalgien und in der Therapie von Autoimmunkrankheiten werden immer häufiger Immunsuppressiva verab-reicht. Der Zahnarzt ist daher in zunehmendem Maß mit solchen Patienten konfrontiert. Dies erfordert ein differenziertes Herangehen an die Diagnose und Therapie oraler Krankheitsbilder, welche möglicherweise in Zusammenhang mit der dann eingeschränkten körpereigenen Abwehr stehen. Hierfür sind exakte Kenntnisse über die Wirkstoffe und deren Nebenwirkungen auf die oralen Gewebe notwendig.
Immunsuppressiva greifen auf unterschiedliche Weise in unser Abwehrsystem ein. Ein häufiger Mechanismus ist die Proliferations- und Aktivierungshemmung von Lymphozyten. Gegen T-Zellen richten sich vor allem Ciclosporin-A, Tacrolimus, mTOR-Inhibitoren wie Sirolimus und Antimetaboliten wie Azathioprim. Sie verursachen als typische orale Nebenwirkung eine oft ausgeprägte Gingivahyperplasie. Dadurch kommt es zu einer verstärkten Retention der durch die mangelnde Immunabwehr überproportional vermehrten parodontal-pathogenen Keimflora in den hyperplastischen Pseudo-Zahnfleischtaschen. Die Folgen sind massive Entzündungen und Gewebsabbau.
Antikörper wie Retuximab hingegen beeinflussen die Funktionalität der B-Lymphozyten. Glucokortikoide werden routinemäßig bei Asthma, dermatologischen Erkrankungen, Rheuma und schweren Allergien verabreicht. Sie wirken auf entzündungs-assoziierte Proteine wie Zytokine und Cyclooxigenase-2 (COX-2). Bei Asthma werden Kortisonderivate häufig in Form von Sprays direkt in die Mundhöhle appliziert. Dies führt bei Langzeitanwendung zu Atrophie und Ausdünnung der oralen Mukosa. Damit steigen die Vulnerabilität des Epithels und die Anfälligkeit gegenüber mechanischen und chemischen Noxen. Da bei manchen Patienten jahrelange Therapien mit Glukokortikoiden erforderlich sind, verursachen die katabolen Nebenwirkungen der Medikation auch osteoporotischen Knochenabbau. Letzteres betrifft erfahrungsgemäß auch den Kieferknochen. Gemeinsam mit einer vorbestehenden Parodontalerkrankung erhöht sich das Risiko für vorzeitigen Zahnverlust.
Methotrexat, ein Folsäure-Antagonist, blockiert den Tumornekrosefaktor (TNFa). Chemotherapeutika wie Bleomycin führen zu schwerer Leukopenie und stören die Synthese von Immunglobulinen. Zudem haben sie auch direkte zytotoxische Wirkung auf die Epithelien der Schleimhäute.

Aggressive Infektionsverläufe bei mangelnder Immunabwehr

Moderne Immunsuppressiva und Chemotherapeutika sind durch bessere Dosisanpassung und entsprechende Modifikation der Verabreichung weniger toxisch. Dennoch sind Auswirkungen auf sensible Gewebe wie die orale Mukosa nicht völlig zu vermeiden. Die naheliegende Folge einer induzierten Immunsuppression ist eine erhöhte Infektanfälligkeit. Während in der Frühphase einer Chemotherapie endogene Infektionen durch überproportionale Vermehrung potenziell pathogener oraler Mikroorganismen im Vordergrund stehen, dominieren später Infektionen durch atypische Keime. Bei Patienten nach haematopoetischer Stammzelltransplantation (HSLT) nimmt besonders in der prätransplantären Therapiephase die Zahl der weißen Blutkörperchen dramatisch ab. Aber auch in späteren Phasen besteht über lange Zeiträume erhöhtes Infektionsrisiko und Bereitschaft für aggressiv verlaufende orale und parodontale Infektionen. Auch die Reaktivierung von Herpesviren oder CMV führt nicht selten zu massiveren oralen Erosionen und Ulzerationen.
Opportunistische Infekte mit Hefen der Candidagruppe treten vermehrt in ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen (pseudomembranös, erythematös, hyperplastisch) auf. Hier dominieren seltenere Candida-spezies wie C. tropicalis, C. glabrata oder C. krusei gegenüber der sonst häufigeren Candida albicans. Bei der Therapie dieser Infekte empfiehlt sich wegen des oft von der Norm abweichenden Erregerspektrums die Durchführung einer mikrobiologischen Analyse und eines Antibiotika/Antimykotika-Empfindlichkeitstests.
Vor zahnärztlichen Behandlungen ist die anamnestische Erfassung von geplanten/laufenden Chemotherapien oder von Dauermedikationen mit immunsuppressiven Medikamenten ein unbedingtes Muss. Bei geplanten Chemotherapien sollten therapiefreie Intervalle immer zu zahnärztlichen Mundhygieneterminen genutzt werden; dies hilft, den Keimload und damit mögliche Streuherde von vornherein zu reduzieren und so in Phasen verstärkter Immunsuppression gefährliche Infektionen zu vermeiden. Im Idealfall sollte schon vor Beginn einer Chemotherapie eine zahnärztliche Sanierung durchgeführt werden. Studien haben gezeigt, dass solche Maßnahmen von der Mundhöhle ausgehende systemische Infektionen drastisch reduzieren können. Bereits manifeste medikamentös bedingte Läsionen müssen frühzeitig erkannt und therapiert werden. Enge Zusammenarbeit mit dem behandelnden Arzt ermöglicht dem Patienten optimal abgestimmte Therapie und damit eine entscheidende Verbesserung der Lebensqualität.

Ch. Eder, L. Schuder

DDr. CHRISTA EDER
FA für Pathologie und
Mikrobiologin
eder.gasometer@chello.at