Fallbeispiel - Kieferorthopädie in der Praxis

Form follows function: Seit den Lehren von Julius Wolff aus dem Jahr 1892 über das Transformationsgesetz des Knochens und über dessen Fähigkeit, sich geänderten funktionellen Belastungen in Form und  Struktur anzupassen, beschäftigt sich auch die Kieferorthopädie mit dem engen Zusammenhang zwischen Form und Funktion.

Intensive Grundlagenforschung über Entwicklung und Wachstum des Kopfbereiches und der Dentition sowie zahlreiche Studien über den Einfluss von exogenen Faktoren wie z.B. der oralen Funktionen auf das Gebiss löste die Entwicklung der Funktionskieferorthopädie aus. Es handelt sich hier um Behandlungsmethoden, die verschiedene Fehlfunktionen, verbunden mit muskulären Imbalancen, korrigieren  und  dadurch mögliche  skelettale und dentoalveoläre Fehlentwicklungen verhindern sollen. Das soll die Entwicklung des Gebisses im Wachstumsalter maßgeblich positiv beeinflussen und die Rezidivgefahr minimieren.
Wichtig für den Erfolg ist aber auch hier eine genaue Diagnose und das Wissen um die Leistungsgrenzen der verwendeten funktionell wirksamen Apparate. Diese sind erreicht, wenn   bestehende Formabweichungen bereits zu ausgeprägt sind. Hier gilt im Umkehrschluss, dass, wenn die Form nicht passt, das Erlernen und Anwenden normaler Funktionsmuster nicht möglich ist.

Fallbeispiel

Im Beispielfall möchte ich nicht positive Effekte der funktionellen Therapie, die wir in der Praxis täglich beobachten können, aufzeigen, sondern einen Fall vorstellen, der nach vorangegangener Behandlung noch immer einen zirkulär offenen Biss mit ausgeprägten myofunktionellen und logopädischen Problemen hatte. „Mit meiner Zahnstellung, die durch die Regulierung erreicht wurde, bin ich eigentlich zufrieden, aber ich habe trotz einer abgeschlossenen logopädischen Therapie noch immer einen Sprachfehler, und das stört mich sehr. Mein Logopäde meinte, ich solle nochmals einen Kieferorthopäden konsultieren“,  erklärte der Patient sein Anliegen. Um hier die Sprachfehler und die Zungenfehlfunktion beim Schlucken zu korrigieren, ist eine rein funktionelle Behandlung sinnlos. Es muss primär die morphologische Ursache behoben werden. „Deshalb“, so informierte ich, „ist noch einmal eine Kieferregulierung erforderlich, die auch die notwendigen Veränderungen im Gebiss realisieren kann.“ Im Falle meines Patienten musste die posteriore Okklusionsebene, das ist die Verzahnung der Seitenzähne, nach cranial angehoben werden. Wenn, wie in meinem Fallbeispiel, durch Intrusion der oberen Seitenzähne und anteriore Rotation des Unterkiefers eine Regelokklusion erreicht wird, kann auf eine orthognathe Chirurgie verzichtet werden. Seit der Einführung der skelettalen Verankerung kann mit speziellen Miniplatten oberhalb der Sechser eine ausreichende Intrusion erfolgreich durchgeführt werden, selbst dann, wenn das Wachstum noch nicht abgeschlossen ist. Das Setzen der Miniplatten jeweils am Unterrand des Jochbogens in Lokalanästhesie ist ein wenig belastender Eingriff. Die intrusiven Kräfte zu den Verankerungseinheiten können unmittelbar danach appliziert werden, ein Palatinalbogen dient zur Kontrolle der transversalen  Relation. Wie die Bilder des Behandlungsverlaufes meines Patienten zeigen, konnte man beobachten, wie der frontal offene Biss geringer wurde, während  sich nun die Molaren gezielt apikalwärts bewegten. Zur Feineinstellung wurden schließlich sämtliche Zähne beklebt, wobei ich die Fehlstellung der unteren Frontzähne aufgrund der parodontalen Situation belassen habe, um hier iatrogen bedingte weitere Schäden zu vermeiden. Sobald ein Überbiss erreicht war, habe ich zu einer neuerlichen Behandlung beim Logopäden zugewiesen.
Bei diesem Fallbeispiel war das okklusale Ergebnis bei der letzten Kontrolle, drei Jahre nach Entfernung der Apparatur, noch unverändert stabil und seine Aussprache war korrekt. Wie der Patient selbst anmerkte, machte er regelmäßig seine logopädischen Übungen, weil er immer wieder in das alte Funktionsmuster zurückfiel. Unter Umständen muss er gegen muskuläre Imbalancen und Fehlfunktion ein Leben lang ankämpfen. Wie Prof. Hans-Peter Bantleon,  Fachbereichsleiter der Universitätszahnklinik Wien, betont,  lässt sich das mit einem Fitnessclub vergleichen, in den jene regelmäßig gehen, die gezielt diese Muskelgruppen trainieren und stärken müssen, die sie im Alltag nicht, oder nicht richtig, belasten, damit  Muskelungleichgewichte ausgeglichen, Knochen und Gelenke korrekt belastet werden und somit die Funktionsfähigkeit von Weich- und Hartgeweben bis ins hohe Alter erhalten bleibt.

MR Dr. DORIS HABERLER

niedergelassene
Kieferorthopädin in Wien
office@dr-haberler.at




Bilderserie zum Fallbeispiel:


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