Fallbeispiel: Kieferorthopädie in der Praxis

„Und wie lange wird meine Regulierung dauern?“ Diese Frage wird von so gut wie allen Patienten vor Beginn einer kieferorthopädischen Multibracketbehandlung gestellt, und unsere Antwort ist meist diese: „Die fixe Spange ist voraussichtlich zwei Jahre im Mund.“

Warum dauern orthodontische Zahnbewegungen noch immer so lange wie vor 50 Jahren bzw. gibt es bereits neue Methoden zur Beschleunigung? Zu diesem Thema referierte Dr. Ravindra Nanda von der Universität Connecticut heuer in Kitzbühel bei der 45. Kieferorthopädischen Fortbildungstagung.
Dr. Ravindra Nanda präsentierte verschiedene Studien zur Wirkung von Corticision, Vibration und zu LIPUS, alles aktuell propagierte Maßnahmen, die die Gesamtdauer der kieferorthopädischen Behandlung signifikant verkürzen sollen. Die Ergebnisse seiner noch laufenden Untersuchungen zeigen, so sein Fazit, dass eine mögliche Beschleunigung orthodontischer Zahnbewegungen meist kurzfristig und vorübergehend ist. Die Methoden erfordern spezielle theoretische und praktische Kenntnisse und der Mehraufwand verursacht auch Mehrkosten. Daher muss der Nutzen für jeden Einzelfall geprüft werden. Will man im Routinebetrieb das kieferorthopädische Behandlungsziel so rasch und effizient wie möglich erreichen, sollte man als Behandler darauf achten, dass die Apparatur gut akzeptiert wird und laufend das richtige Kraftsystem arbeitet.
Eine weitere Frage, die am Behandlungsbeginn immer gestellt wird, ist: „Wie oft muss ich zu den Kontrollterminen kommen?“ Denn genauso wie die Gesamtdauer bedeutet auch der Zeitaufwand für die Kontrolltermine, die in der Regel während der gesamten Therapie in vier- bis sechswöchigen Abständen vergeben werden, sowie für zusätzliche Termine aufgrund von Abhilfen bei aufgetretenen Problemen eine enorme zeitliche Belastung für die Betroffenen.

Fallbeispiel

Dazu möchte ich eine Patientin aus einer Gemeinde 40 km außerhalb von Wien vorstellen. Sie kam mit einem Elternteil zur Beratung in meine Ordination. Die junge Frau wünschte sich schon lange eine Zahnspange, weil sie der Außenstand des rechten Eckzahnes störte. Der Zahnarzt in ihrer Gemeinde, bei dem sie seit einiger Zeit als Helferin arbeitete, hatte sie schließlich über weitere Probleme in ihrem Gebiss aufgeklärt, zu einer umfassenden kieferorthopädischen Behandlung geraten und wegen der Schwere der Fehlstellung – es handelt sich bei ihr um einen Grad 4 nach dem IOTN – meiner Ordination zugewiesen.
Ihr fehlte der rechte untere Fünfer, der offensichtlich nie angelegt gewesen war. Die benachbarten Zähne waren von mesial und von distal in die Lücke gekippt und hatten diese fast vollständig geschlossen. Gleichzeitig war wegen der Mesialwanderung der rechten oberen Seitenzähne auch Platz für den Zahn 13 verloren und dieser im Außenstand. Die untere Zahnmitte war nach rechts verschoben.
Mein Behandlungsvorschlag war, ausreichend Platz für Zahn 13 durch Distalisieren der Seitenzähne zu gewinnen und ihn einzuordnen. Im Unterkiefer wollte ich die Lücke bei Zahn 45 öffnen und die untere Mitte nach links, richtig zur oberen Mitte hin, korrigieren. Die Lücke bei  Zahn 45 sollte anschließend vom Zahnarzt prothetisch versorgt werden.
Mit diesem Plan waren alle Beteiligten einverstanden, aber ein Problem war schließlich die Durchführung. Eine Behandlung in Wien mit einer voraussichtlichen Dauer von zwei Jahren und verbunden mit häufigen Kontrollordinationen kam aus organisatorischen Gründen nicht in Frage.
„Ich kann unmöglich über einen Behandlungszeitraum von zwei Jahren in vier- bis sechswöchigen Abständen zu Ihnen in die Ordination kommen. Ich möchte in meiner Lehrzeit nicht so oft fehlen, außerdem brauche ich eine erwachsene Begleitperson, die mich mit einem PKW in die Ordination fahren kann. Meine Eltern sind beide berufstätig und häufige, regelmäßige Fahrten nach Wien mit der Arbeit für sie schwer zu vereinbaren.“
Als Alternative zu einer Multibracketbehandlung bot ich eine Behandlung mit Kunststoffschienen an, die in diesem Fall auch geeignet war, das angestrebte okklusale Ziel zu erreichen: „Wenn ich mit Ihrer guten Mitarbeit rechnen kann, können wir Ihre Behandlung auch mit Alignern durchführen. Bei dieser Methode sind große Intervalle bei den Kontrollterminen möglich und Probleme wie Druckstellen in der Schleimhaut und Beschädigung der Apparatur sind nicht zu erwarten.“ Nach einer umfassenden Aufklärung über die Vor- und Nachteile der Alignertherapie bzw. der Multibrackettherapie entschieden sich die Patientin und ihre Eltern für die Aligner.
Nach einer zweijährigen Tragezeit der Kunstoffschienen, während der sie im ersten Jahr sechs Mal und im zweiten Jahr fünf Mal zur Kontrolle in der Ordination war, zeigte sich die Patientin mit dem erreichten Ergebnis zufrieden, insbesondere weil der Aufwand für alle Beteiligten akzeptabel war.
Jeder Patient wünscht sich kurze Behandlungszeiten mit wenigen Arztterminen. Die Fortschritte in der Kieferorthopädie machen es möglich, und das ist nicht nur aus medizinischer Sicht, sondern, wie mein Fall zeigen soll, auch aus wirtschaftlicher Sicht vorteilhaft.

MR Dr. DORIS HABERLER
niedergelassene
Kieferorthopädin in Wien
office@dr-haberler.at

 

 

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