Fallbeispiel - Kieferorthopädie in der Praxis

„Der progene Formenkreis“ ist ein Sammelbetriff für die Gesamtheit aller Dysgnathieformen, deren kennzeichnendes Leitsymptom der Kreuzbiss im Schneidezahnbereich ist.

Für den progenen Profilverlauf und die Bisslage verantwortlich ist in vielen Fällen nicht die absolut vergrößerte Länge des Unterkiefers, sondern z.B. eine Wachstumshemmung des Mittelgesichts. Ist das Vertikalwachstum der Maxilla reduziert, dann schwingt der Unterkiefer über das normale Maß nach vorne und das Kinn wird prominent. In jenen Fällen, bei denen es beim Kieferschluss zum vorzeitigen Kontakt der Schneidezähne kommt, muss der Patient den Unterkiefer weiter nach vorne verlagern, wenn er den Schluss der Seitenzähne erreichen will. Ein Kreuzbiss, der durch diese Vorverlagerung bedingt ist, wird als progener Zwangsbiss bezeichnet. Dieser lässt sich mit kieferorthopädischen Maßnahmen, die rasch zu einem korrekten Überbiss führen, erfolgreich und dauerhaft beheben. Aber auch die echte progene Verzahnung hat hier eine gute Prognose. Voraussetzung ist, dass der Patient die Mitarbeitsbereitschaft über die notwendige lange Behandlungszeit aufrechterhält.

Dies möchte ich anhand eines Fallbeispiels diskutieren:

Die Patientin wurde im Alter von acht Jahren in meine Ordination zugewiesen. Ihre vier Frontzähne und die Seitenzähne rechts standen im Kreuzbiss. Bedingt durch eine sagittale und vertikale Wachstumshemmung der Maxilla war die Mandibula nach anterior rotiert, der Überbiss war verstärkt. Den besorgten Eltern war schon mehrfach zu einer kieferorthopädisch-chirurgischen Behandlung nach Wachstumsende geraten worden. Sie wollten der Tochter aber nach Möglichkeit eine Gesichtsoperation ersparen. Außerdem litt das Mädchen bereits unter ihrem progenen Aussehen und der schlechten Verzahnung. Der Wunsch der Betroff enen nach einer Behandlung war verständlich. Allerdings stieß auch die alternative Therapiemöglichkeit, das konsequente Tragen einer Gesichtsmaske für mehrere Monate und eine lange Retentionszeit mit abnehmbaren Geräten, auf wenig Akzeptanz. Nach meinem Aufklärungsgespräch erbaten sich die Eltern eine Bedenkzeit. Ein halbes Jahr später, nach nochmaligen Besprechungen der notwendigen Maßnahmen, starteten wir doch mit der bei der frühen Klasse-III-Behandlung üblichen zementierten Kappenschiene und einer Gesichtsmaske, die die Patientin 14 Stunden täglich tragen sollte. Zwei Monate später war ein Kantbiss in der Front erreicht und fünf Monate später waren der Kreuzbiss überstellt und der Tiefbiss behoben. Zur Retention tauschte ich die fix zementierte Schiene gegen eine weitere, diesmal abnehmbare Plattenapparatur, die, wie sie es ja schon gewohnt war, auch tagsüber getragen und nur zum Essen und Reinigen entfernt wurde. Bei Bedarf ermöglichten zusätzliche Klasse-III-Haken ein Tragen der Gesichtsmaske zur sagittalen Kontrolle. Zur Bisshebung wurde der Kunststoff interokklusal ähnlich wie bei einer Aktivatortherapie im Bereich der Seitenzähne eingeschliff en. Es dauerte ein weiteres halbes Jahr, bis bei den Sechsern gute Okklusionskontakte nachweisbar waren. Zur Sicherung der nun erreichten sagittalen, transversalen und vertikalen Kieferrelation hat die Patientin während des Zahnwechsels in der Stützzone nachts noch einen Funktonsregler-III getragen. Die apparative Behandlung beendete ich nach Durchbruch aller Zähne, auch der zweiten Molaren, im Alter von 12,2 Jahren. Die Patientin hatte bis zuletzt eine gesicherte Okklusion und eine gute Gesichtsästhetik. Für den Start einer Multibracket-Behandlung zur Korrektur der Zahnfehlstellungen konnte sie sich noch nicht entscheiden.

MR Dr. DORIS HABERLER

niedergelassene
Kieferorthopädin in Wien
office@dr-haberler.at




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