Von der Seele im Backenzahn - Psychosomatik an der Wiener Zahnklinik

Prof. Dr. Karin Gutiérrez-Lobos ist Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie sowie Psychotherapeutin. Sie arbeitet seit ihrer Ausbildungszeit an der Medizinischen Universität Wien, von 2007 bis 2015 als Vizerektorin für Personalentwicklung, Gender und Lehre. Seit Kurzem ist sie an der Universitätszahnklink Wien tätig. Wir sprachen mit Prof. Gutiérrez-Lobos über Psychosomatik in der Zahnmedizin. Denn schon Wilhelm Busch wusste: „Denn einzig in der engen Höhle / des Backenzahnes weilt die Seele.“

Was bedeutet „Psychosomatik in der Zahnmedizin“?

GUTIÉRREZ-LOBOS: Hier fallen mir zunächst zwei klassische Sätze ein: „An jedem Zahn hängt ein ganzer Mensch“ und „Wer als Werkzeug nur einen Hammer hat, sieht in jedem Problem einen Nagel“. Es geht um die alte Forderung nach ganzheitlicher Medizin, einer nicht-paternalistischen Medizin, um Hilfe zur Selbsthilfe, um die Frage, wie geht man mit Krankheit um. Der Mundbereich ist ein sehr sensibler Bereich, eine Eintrittspforte in den Körper. Es ist off ensichtlich nicht einfach, hier Manipulationen zuzulassen. Viele Patientinnen und Patienten sehen dadurch die Integrität des Körpers bedroht, verbinden einen Zahnarztbesuch mit Gefahr. Laut einer aktuellen repräsentativen Umfrage haben rund 30 Prozent der Österreicher Angst vor dem Zahnarzt und suchen diesen daher nicht oder zu spät auf. Hier gibt es Handlungsbedarf. Aufklärung, Angstreduktion – etwa Entspannungsübungen, Gestaltung der Behandlungsumgebung, denn viele Patienten werden bereits durch das Geräusch des Bohrers irritiert. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch der erste Zahnarztbesuch des Kindes. Er sollte möglichst dann organisiert werden, wenn es noch keine Schmerzen hat, um zunächst die Umgebung kennenzulernen. Natürlich sollten Eltern ihren Kindern nicht mit dem Zahnarzt drohen: Wenn du weiter so viel Süßes isst, … Die bedeutsamsten psychosomatischen Beschwerdebilder in der Zahnheilkunde sind neben der schon erwähnten Behandlungsphobie somatoforme Störungen, Bruxismus und kraniomandibuläre Störungen. Auch komorbide psychische Störungen (z.B. Depressionen, Essstörungen) können wichtige zahnmedizinische Auswirkungen aufweisen. Ein klassisches Problem ist auch, wenn beim Zahnersatz Befund und Befinden auseinanderklaff en. Es gibt off enbar Patienten, die mit „Fremdkörpern“, wie es beim künstlichen Zahnersatz der Fall ist, schlecht umgehen können, sich dann nicht intakt fühlen. Diese Beobachtung wurde bereits bei künstlichen Hüftgelenken gemacht – der Operateur ist stolz, aber der Patient ist enttäuscht, weil er andere Erwartungen hatte. Daher ist ein entsprechendes Aufklärungsgespräch wichtig – was kann die Prothese leisten? Das gilt analog auch für die Zahnmedizin. Generell ist Kommunikation in der Zahnmedizin ein entscheidender Faktor. Man muss etwa die Krankheitskonzepte der Patienten und Patientinnen in Erfahrung bringen. Die Kenntnis der psychischen Zusammenhänge hilft, Behandlungsfehler zu vermeiden, die Zufriedenheit der Patienten sowie ihre Compliance zu erhöhen und „Doctor-Shopping“ zu vermeiden.

Wie sehen Sie die zukünftige Entwicklung der Psychosomatik an der Wiener Zahnklinik?

GUTIÉRREZ-LOBOS: Psychosomatik und ganzheitliche Behandlung sind integrale Bestandteile einer qualitätsvollen Zahnbehandlung. Daraus resultieren kürzere und effizientere Behandlungsabläufe sowie Erhöhung der Behandlungsqualität und Zufriedenheit der PatientInnen.Daher gibt es international bereits an einigen zahnmedizinischen Unis Spezialabteilungen für Psychosomatik. Die Wiener Universitätszahnklinik wird, dem internationalen Trend folgend, eine spezielle psychosomatische Einheit etablieren.

Als langjährige Vizerektorin für Lehre – wie sehen Sie heute die Lehre an der Wiener Zahnklinik?

GUTIÉRREZ-LOBOS: Die Grundlage für eine moderne Ausbildung von Studierenden und einer zeitgemäßen Behandlung von PatientInnen ist die Forschung. Die Wiener Zahnklinik konnte in den letzten Jahren den wissenschaftlichen Output kontinuierlich steigern und ist international anerkannt. Pro Jahr werden rund 30.000 Patienten ambulant versorgt oder in einer der sechs Spezialambulanzen betreut. Die Patientenzufriedenheit ist hoch. Die Studienrichtung „Zahnmedizin“ wurde 2002, mit dem Inkrafttreten des neuen Studienplans der Medizin, als eigenständige Ausbildung etabliert (Diplomstudium der Zahnmedizin). Mit Beendigung des Studiums der Zahnmedizin werden bekanntlich gleichzeitig die selbstständige Berufsberechtigung und die Niederlassungsfähigkeit erworben. Diese Praxisbefähigung wird von den Studierenden der Zahnmedizin u.a. durch die Teilnahme an einem 72-Wochen-Praktikum erworben. Rund 200 Studierende werden gegenwärtig im dritten Abschnitt des Diplomstudiums Zahnmedizin ausgebildet, jährlich etwa 70 Studierende absolvieren das anspruchsvolle Studium. An der Klinik gibt es zahlreiche (internationale) Kooperationen und gute Karrieremöglichkeiten.

Herzlichen Dank für das Interview!

Dr. PETER WALLNER
Umweltmediziner und
Medizinjournalist
peter.wallner4@gmail.com

Prof. Dr. Karin Gutiérrez-Lobos