Fallbeispiel - Kieferorthopädie in der Praxis

Eine komplexe kieferorthopädische Behandlung ist teuer. Ob sie nun vom Patienten privat zu bezahlen ist, oder ob sie in Teilen bzw. zur Gänze von Krankenversicherungen übernommen wird ändert nichts an den daraus entstehenden Kosten. Da jeder, der Geld ausgibt, auch wissen soll, welche Leistungen er dafür erwarten darf, sind auch in der Kieferorthopädie entsprechende Vereinbarungen im Vorhinein üblich.

In der Praxis handelt es sich um eine Übereinkunft zwischen Arzt und Patient bzw. dessen gesetzlichen Vertreter. Diese setzt die hinlänglich bekannte Plicht zur im Vorfeld umfassenden Aufklärung des Patienten über Behandlungsmöglichkeiten inklusive interdisziplinären Maßnahmen, über die jeweiligen Vor- und Nachteile, die benötigten Apparate, die Behandlungsdauer usw. voraus. Seit Kosten von kieferorthopädischen Behandlungen auch als Sachleistung von den Krankenkassen übernommen werden, informieren wir die Patienten natürlich auch, ob nach dem neuen Vertrag im Einzelfall ein Anspruch besteht, und wenn ja, was zu beachten ist, damit dieser nicht aus formalen, nicht medizinischen Gründen, verlorengeht. Problematisch wird so ein Aufklärungsgespräch, wenn diese im Widerspruch zum ärztlichen Handeln stehen! Das möchte ich anhand eines Fallbeispiels diskutieren.

Fallbeispiel

Der Progeniepatient wurde mir im Alter von 17 Jahren zugewiesen. Er hatte bereits eine mehrjährige kieferorthopädische Behandlung mit abnehmbaren Geräten hinter sich. Diese hatten den oberen Zahnbogen ausreichend geweitet, einen seitlichen Kreuzbiss überstellt, den Raummangel aufgelöst und 13 und 23 eingeordnet. Ein Kreuzbiss in der Front war nicht behoben. Wie bei jedem Erstgespräch fragte ich den Patienten nach seinem primären Anliegen. „Eigentlich bin ich mit dem Ergebnis der vorangegangenen Therapie zufrieden,“ meinte der Patient. „Ich will keine weitere Behandlung und ganz sicher keine fixe Zahnspange. Ich mache im Frühjahr die Matura, danach bin ich einige Monate im Ausland und absolviere ein Praktikum, das mich auf die Aufnahmeprüfung für mein Studium im Herbst vorbereiten soll.“ Die ebenfalls anwesenden Eltern waren allerdings besorgt, weil der Hauszahnarzt auf den noch immer bestehenden schweren Fehlbiss hingewiesen und dringend zu einer Konsultation beim Kieferorthopäden geraten hatte. Außerdem beunruhigte sie, dass der Sohn gelegentlich über Schmerzen und Knackgeräusche im linken Kiefergelenk klagte.
Nachdem ich alle notwendigen relevanten Unterlagen erstellt und ausgewertet hatte, empfahl ich dem Patienten für die Gelenkprobleme vorerst eine Manualtherapie und weitere Kontrollen, sowie als Maßnahmen zur Therapie der Progenie eine fixe Zahnspange zur Behandlung der Zahnbögen im Sinne einer Dekompensation und eine orthognathe Chirurgie .
Bei der kieferorthopädisch-chirurgischen Behandlung der Progenie handelt es sich um einen schweren Eingriff mit zahlreichen möglichen Nebenwirkungen und Risiken. Die Entscheidung dafür muss daher gut überlegt sein, und der Zeitpunkt für den Beginn sollte sorgfältig ausgewählt werden.
Neben den persönlichen Gründen für einen späteren Beginn, die jedenfalls berücksichtigt werden sollten, ist es ratsam bis zur Volljährigkeit zuzuwarten, damit die Entscheidung vom Patienten selbst und nicht mehr ausschließlich von den Eltern getroffen werden kann. Weiters ist speziell bei männlichen Progeniepatienten mit einem langen Schlusswachstum zu rechnen, und von einem Beginnen vor Ende des skelettalen Wachstums abzuraten, auch wenn für eine Kostenübernahme durch die Krankenkassa das chronologischen Alter und nicht das skelettale Alter ausschlaggebend ist.
In diesem Sinne wurde die Behandlung nicht vor dem 18. Lebensjahr, sondern erst im Alter von 21 Jahren begonnen und sie war nach 16 Monaten abgeschlossen.

MR Dr. DORIS HABERLER
niedergelassene
Kieferorthopädin in Wien
office@dr-haberler.at

 


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