Kieferorthopädie - Gratis - oder Krankenkassenspangen

Dr. Ernst M. Reicher, Rudersdorf, ist (u.a.) Sekretär der Österreichischen Gesellschaft für KFO. ZMT sprach mit ihm über „ein Jahr Gratiszahnspange“. „Wir Kieferorthopäden sagen übrigens nicht ‚Gratiszahnspange‘, sondern Krankenkassenspange, weil es sonst klingt, als wäre sie nichts wert“, so Reicher.

Könnten Sie bitte eine kurze Übersicht zum Thema „Krankenkassen-Zahnspange“ geben?

REICHER: Für die 32 Versorgungsregionen des Österr. Strukturplans Gesundheit wurden 180 Vertragsarztstellen vorgesehen. In manchen Regionen gab es zu viele Bewerber, in manchen eher zu wenige, letztlich wurden zumindest 150 Verträge unterzeichnet. Für die Bewerbung als Vertrags- oder Wahlkieferorthopäde ist eine entsprechende Qualifikation notwendig (Univ.-Prof., drei Jahre an einer KFO-Abteilung, EBO, ABO, EU-Fachzahnarzt, Kammerdiplom, Master-Ausbildung etc.).
Der höchste nationale kieferorthopädische Qualifikationsnachweis ist das vom VÖK organisierte Austrian Board of Orthodontists (ABO). Das vor mehr als 15 Jahren gegründete ABO bietet allen kieferorthopädisch tätigen KollegInnen die Möglichkeit, ihr Wissen und ihre Fähigkeiten  durch ein national und international besetztes Expertenkomitee überprüfen zu lassen. Adäquat bzw. übergeordnet auf europäischem Niveau ist das European Board of  Orthodontists (EBO).
Um auch die Ausbildung in Europa zu standardisieren, wurde 2008 das NEBEOP gegründet. Die kieferorthopädische Ausbildung an der Wiener Zahnklinik wurde bereits NEBEOP-akkreditiert. Die Kosten für die Zahnspange werden bei ausgeprägten Zahn- und Kieferfehlstellungen (IOTN 4 und 5) vom Bund übernommen. Wenn die Behandlung bei Vertragskieferorthopäden erfolgt, braucht der Patient keinerlei Zahlungen leisten. Erfolgt die Behandlung bei qualifizierten Wahlzahnärzten, erhalten Patienten einen Zuschuss in der Höhe von 80% des Vertragstarifs. Die Patienten sind übrigens erstmals gesetzlich zu Hygiene und Mitarbeit verpflichtet.

Sie haben sich in den letzten Jahren viel mit dem IOTN beschäftigt. Was ist zum IOTN zu sagen?

REICHER: Ja, Dr. Elisabeth Schubert, Dr. Elisabeth Santigli, Dr. Claudia Pölzl und ich haben im Namen des VÖK und der Arbeitsgruppe Dental Public Health der ÖGZMK zahlreiche IOTN-Kurse gehalten (bis dato über 500 TeilnehmerInnen). Der IOTN (Index of Orthodontic Treatment Need) wurde in den 90ern in Großbritannien von Prof. Richmond (nach skandinavischem Vorbild, zusammen mit  Shaw und O’Brian) entwickelt; die Universität von Manchester besitzt auch die entsprechenden Patente. Unterlagen, Messlineale etc. müssen daher teuer erworben werden. Der IOTN ist eigentlich ein wissenschaftlicher Index, mit dem man – im Sinne von Dental Public Health – den kieferorthopädischen Behandlungsbedarf in der Bevölkerung erheben kann. In mehr oder weniger abgewandelter Form wird er heute in vielen Ländern der Welt zur Bestimmung des individuellen Behandlungsbedarfs herangezogen. Es gibt auch einen Index für den Behandlungsaufwandes (ICON, ebenfalls von Richmond entwickelt) sowie einen Index hinsichtlich der Qualität der Behandlung (PAR), der bereits bei der Qualifizierung zum Vertrags- oder Wahlkieferorthopäden bzw. in der Evaluierungsphase der Krankenkassenspange Anwendung findet.
Zweifellos kommen deutlich behandlungsbedürftige Fehlstellungen vor, die nicht unter IOTN 4 oder 5 fallen oder die von einer Bewertung im IOTN völlig unberücksichtigt bleiben. Da der IOTN in Grenzfällen nicht einfach zu beurteilen ist und zahlreiche Besonderheiten hat, gibt es leider immer wieder gravierende Auffassungsunterschiede zwischen Behandlern und dem zahnärztlichen Dienst der Krankenkassen. Eine „Präzisierung“ und einheitliche Beurteilung stehen leider noch aus.

Wie sehen Ihre persönlichen Erfahrungen mit der „Gratiszahnspange“ aus?

REICHER: Die Eltern warteten zunächst ab. In dieser Zeit war bei den Kieferorthopäden so wenig los, dass manche Personal entlassen mussten. Dann kam es zu einem Schwall an Patienten, der Anfang 2016 wieder abflaute. 90% meiner Patienten haben IOTN 4 oder 5. Jetzt kommen viele, die vorher gar nicht gekommen wären. Nicht selten kommen sie ohne tatsächliche behandelbare Bedürfnisse, wollen aber beraten werden, da es angeblich etwas gratis gibt. Manche sind daher auch unzufrieden, weil sie nicht in IOTN 4 oder 5 fallen.

Was sind Ihre Kritikpunkte?

REICHER: Im Gesetz finden sich einige Unüberlegtheiten, so kann sich der geforderte „Stand der Technik“ sehr rasch verändern (z.B. 3D-Scantechnik im Umbruch), eine Vorbereitungsphase bezüglich IOTN und PAR gab es überhaupt nicht. Erlaubt sind „nur Metallbrackets“, d.h. vergoldete Brackets sind theoretisch erlaubt, Qualitäts-Porzellanbrackets nicht. Dass es bei der Krankenkassenspange keine soziale Staffelung gibt, haben wir von Anfang an kritisiert. Problematisch ist auch die Deckelung und die vorhersehbaren Tarifschwankungen.

Wie sieht Ihr Blick in die Zukunft aus?

REICHER: Ich halte es für durchaus möglich, dass die Krankenkassenspangen-Tarife fallen werden. Was die zahnärztliche Versorgung betrifft, bin ich besorgt. So sind Kassenstellen in der „Provinz“ immer schwerer zu besetzen (z.B. ist in der Bezirkshauptstadt Jennersdorf seit einem Jahr eine Stelle unbesetzt) und die Kassen reduzieren die Anzahl bewusst. Wenn die Patienten dann zu Wahlärzten gehen, erspart sich die Kasse viel Geld. Ich gehe weiters davon aus, dass sich für viele Gegenden keine Zahnärzte mehr finden werden. Bereits jetzt eröffnet nur ein erschreckend geringer Anteil der AbsolventInnen der Zahnkliniken eine eigene Ordination.
Das Burgenland ist heute das einzige Bundesland ohne Prophylaxe. Das Land will zwar etwas unternehmen, aber es darf halt nichts kosten. Wenn Kinder viele Milchzähne verlieren und eine Regulierung notwendig wird, kostet das deutlich mehr als die Prophylaxe. Da die Regulierungen aber der Bund zahlt, sieht die Kasse zu. Hier wird also Geld auf Kosten der „Kleinsten“ verschwendet. Ich hoffe aber immer noch, dass es wieder Zahnprophylaxe-Programme im Burgenland geben wird.

Herzlichen Dank
für das Interview!

Dr. PETER WALLNER
Umweltmediziner und
Medizinjournalist
peter.wallner4@gmail.com

 

Dr. Ernst M. Reicher